Dienstag, 27. Mai 2014

Krebs: Rönnebeck



Die Rönnebeck-Anomalie 




Die Entdeckung eines erhöhten Leukämierisikos in einem Blumenthaler Ortsteils




Um mögliche gesundheitliche Auswirkungen der Boden- und Grundwasserkontaminationen durch Leckagen auf dem Areal des Tanklagers Farge zu untersuchen, hat das Bremer Krebsregister im Jahr 2013 kleinräumige Krebsstudien für die Ortsteile Farge und Rönnebeck erarbeitet. Dabei wurden die Leukämien und Lymphome als Benzol-affine Krebserkrankungen als wichtige Indikatorgruppe betrachtet.

Auch wenn das Ergebnis der ersten und einer späteren Anschlussauswertung umstritten ist, ergibt sich aus den veröffentlichten Daten ein überraschendes Resultat für den Bremer Ortsteil Rönnebeck. Dort liegen die Erkrankungen vor allem an Non-Hodgkin-Lymphomen (NHL) und Multiplen Myelomen (MM) sehr deutlich über dem Bremer Durchschnitt, sodass man hier verkürzt von einer Rönnebeck-Anomalie sprechen kann.

Ende April 2014 wurde daher durch einen Bürgerantrag im Blumenthaler Beirat eine gezielte Suche nach möglichen Ursachen gefordert, um das Risiko vermeidbarer Krebsneuerkrankungen mit ihren vielfältigen Belastungen für die Betroffenen und deren Angehörige in Rönnebeck zu beseitigen.




         Vermehrung von Plasmazellen (Große ovale Zellen mit breitem Zytoplasma und exzentrisch              gelegenem Zellkern) beim Multiplen Myelom (Quelle: wikipedia)



Die Leukämiediagnose


Die Diagnose „Leukämie“ ist auch in einer Zeit, in der die Medien häufig von Fortschritten in der Krebsforschung berichten und die Ärzte ihre Therapieerfolge bei frühzeitigen Diagnosen herausstellen, noch immer ein harter Schicksalsschlag. In vielen Fällen ist damit die Aussicht auf ein Leben verbunden, das niemals wieder so sein wird wie zuvor. Die Betroffenen müssen sich vielmehr mit einer Zukunft abfinden, die durch gravierende Einschränkungen, Schmerzen und auch Phasen von Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist.

Und auch wenn man immer wieder von einem erfolgreichen Kampf Einzelner gegen den Krebs hört, bleiben die Blicke auf die medizinischen Statistiken ernüchternd. Dort können sich die Kranken auf den Hyperbeln einordnen, die teilweise sogar für innovative Medikamente von Monat zu Monat deutlich sinkende durchschnittliche Wahrscheinlichkeiten anzeigen (vgl. Diagramm), in denen die Krankheit gestoppt ist. Das sind Zahlen, die nicht nur etwas über das Todesrisiko aussagen, sondern auch über ein Leben davor, in dem nur notorische Optimisten wirklich ungetrübte positive Erfahrungen finden können.




Verbesserte Überlebensrate durch das Medikament Imnovid (Pomalidomid (POM)) (Quelle: Präsentation der MM003-Studie durch Katja C. Weisel, Juni 2013)


Das Leukämieschicksal ist jedoch nicht nur weitgehend unentrinnbar, sondern schlägt fast heimtückisch zu. Während sich andere Krebserkrankungen zumindest teilweise durch das Rauchen oder die Arbeit mit Asbest erklären lassen, konnten bisher für die Lokalisationen, die man gemeinhin unter „Leukämie“ zusammenfasst, keine relativ gesicherten Erklärungen gefunden werden. Die Krankheit kann jeden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit treffen, sie ist daher so etwas wie der negative Gegenpol zu einem Lottogewinn, wobei die Erkrankung sogar Jahrzehnte vor einer Erstdiagnose begonnen haben kann, ohne dass sie wegen der langen Latenzzeit bemerkt wurde.

Die ständige menschliche Suche nach Ursachen stößt hier auf ein großes Rätsel, da in der heutigen Zeit kaum noch jemand die Krankheit als eine göttliche Strafe interpretieren wird, wie das früher der Fall war. Immerhin weist die Krankheit durchaus Ähnlichkeiten mit biblischen oder mittelalterlichen Strafmaßnahmen auf, wenn auch in Zeiten der Apparatemedizin manche Therapien an ein Fegefeuer erinnern. Nicht-Mediziner sehen dann vor allem die Schmerzen und das Leiden, während für sie eine Besserung sehr, sehr weit entfernt zu sein scheint.

Auch wenn es den Betroffenen selbst nicht mehr hilft, werden sie daher vor allem nur einen Weg sehen, um diesem zufälligen Fluch zu entgehen: die Senkung aller Risikofaktoren, die zu Leukämie- und allen anderen Krebserkrankungen führen.



Leukämien und Lymphome nach „Krebs in Deutschland 2013“


Lokalisation ICD-10 (1)
Sterbera-te (M) (2)
Sterbe-rate (F)
Erkran-kungs-
rate (M)
Erkran
kungs-rate (F)
Absolute
Überlebens-rate (M) (3)
Absolute Überlebens-rate (F)
Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) C 82- C 85
5,1
3,3
21,4
18,3
58
59
Multiples Myelom (MM) C 90
3,2
2,2
8,4
6,7
39
40
Leukämien C 91 -C 95
6,5
4
16,6
11,4
47
47
Krebs insgesamt

19,9
12,4
629,4
539,9
52
59
Quelle: Krebs in Deutschland 2013, S. 16, 17, 18, 116, 120 und 124.  

Anmerkung:
(1) ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das aktuell wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin.

(2) Die Sterbe- und Erkrankungsraten beziehen sich auf die Zahl der Fälle, die pro 100.000 Einwohner gemeldet werden. Dabei werden wegen der Geschlechtsunterschiede Werte für Männer (M) und Frauen (F) getrennt ausgewiesen.

(3) Die Absolute Überlebensrate stellt den Prozentanteil der Patientinnen und Patienten dar, die fünf Jahre nach ihrer Diagnose noch leben.





Der Tanklagerskandal in Farge und Rönnebeck


Damit stehen sie nicht allein; denn Ängste vor einer Krebserkrankung sind bekanntlich sehr verbreitet. Und das nicht ohne Grund, wie die entsprechenden Statistiken und Meldungen über steigende Krebserkrankungen allein aufgrund der insgesamt höheren Lebenserwartung belegen (vgl. Krebs in Deutschland, S. 6).


Daher haben die Anwohner des Tanklagers Farge, nachdem die dortigen Boden- und Grundwasserkontaminationen mit BTEX, also den Kohlenwasserstoffen Benzol, Toluol, Ethylbenzol und Xylolen, sowie dem verwandten Kohlenwasserstoff MTBE durch die Medien Ende 2012 thematisiert wurden (Drieling 2012) und die Bremer Umwelt- und Gesundheitsbehörde mehrfach die Anwohner einer Reihe von Straßen in Farge und Rönnebeck vor der Verwendung ihres Brunnenwassers warnen mussten, schnell nach einem möglicherweise erhöhten Krebsrisiko gefragt. Immerhin wurden die Anwohner erstmals im Mai 2009 darüber informiert, dass die Verwendung des Brunnenwassers zu „gesundheitlichen Wirkungen“ wie z.B. Reizungen der Augen, Haut und Atemwege, Schwindel, Kopfschmerz oder Schädigungen der Nieren führen kann. Abschließend gab es noch den nicht weiter kommentierten lapidaren Hinweis: „Benzol gilt darüber hinaus als krebserregend.“




               Areal des Tanklagers Farge (Quelle: Luttmann/ Eberle, März 2013 , S. 1)


Nicht zuletzt hat diese Sorge um die eigene Gesundheit zur Gründung der „Bürgerinitiative zur Erhaltung des Wasserschutzgebietes Blumenthal und Aufklärung der Verseuchung von Grund, Wasser und Boden durch das Tanklager Farge“ geführt und zu einer Umkehr der Haltung der großen Parteien in Blumenthal und Bremen. Nachdem sie sich zunächst vorrangig für die Erhaltung der Arbeitsplätze im Tanklager eingesetzt hatten, rückte auch bei ihnen nach und nach die Vermeidung gesundheitlicher Risiken in den Vordergrund und führte letztendlich zur Schließung des Tanklagers und zur angekündigten Rückgabe der Betriebsgenehmigung.

Um mehr Klarheit zu erhalten, wurde über Bürgeranträge eine Analyse möglicher gesundheitlicher Auswirkungen der Tanklager-Leckagen gefordert. Darauf hat das Bremer Krebsregister nach einer Anfrage des Blumenthaler Ortsamtsleiters im März 2013 mit einer kleinräumigen Auswertung seiner Daten reagiert.

In dieser Studie (Luttmann/ Eberle, März 2013) haben sich die Autorinnen genauer mit den Krebserkrankungen beschäftigt, bei denen für Benzol beispielsweise nach den Angaben der International Agency for Research on Cancer (IARC) eine „krebserzeugende Wirkung beim Menschen .. seit mehreren Jahrzehnten als bewiesen“ gilt.

Daher wurden drei Gruppen von Erkrankungen differenziert für Farge und Rönnebeck betrachtet, und zwar zunächst „akute myeloische bzw. nicht lymphatische Leukämien“ (Gruppe III in der Untersuchung).

Da auch „für die Non-Hodgkin-Lymphome, zu denen heutzutage auch die akuten und chronischen lymphatischen Leukämien gezählt werden, sowie für das Multiple Myelom von der IARC ein begrenzt nachgewiesener Zusammenhang belegt“ wurde, haben die Autorinnen diese Erkrankungen gemeinsam mit der Gruppe III als weitere Untersuchungsgruppe IV ausgewiesen.

Um schließlich den Problemen gerecht zu werden, die aus der schwierigen „Abgrenzung der verschiedenen Formen hämatologischer Krebserkrankungen anhand von Krebsregisterdaten“ resultieren, „insbesondere wenn die Meldung über die Krebserkrankungen ausschließlich über die Todesbescheinigung erfolgt“, wurde von den Wissenschaftlerinnen schließlich als weitere Gruppe die „Gesamtheit der malignen Erkrankungen des hämatopoetischen Systems“ gebildet und untersucht (Gruppe V) (Ebenda, S. 6)


Diese Gruppe V umfasst damit alle Benzol-affinen Krebslokalisationen, die in der Untersuchung betrachtet werden, und schließt die Gruppe IV ein, die wiederum die Gruppe III als Teilmenge neben den an Non-Hodgkin-Lymphomen und Multiplen Myelomen Erkrankten umfasst.
Die im Untersuchungsgebiet gemeldeten Fälle verteilen sich auf die einzelnen Lokalisationen recht unterschiedlich. So wurden für die Ortsteile Farge und Rönnebeck dem Krebsregister im Zeitraum 2000 - 2009 insgesamt 57 Fälle gemeldet, von denen nur 9 der Gruppe III zugerechnet werden. Das Gros stellen somit Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) und Multiple Myelome (MM) mit insgesamt 41 Fällen, die nicht weiter aufgeschlüsselt wurden. (Ebenda, S. 10)



Verwässerte Ergebnisse




Diese Studie, die von den Behörden als Entwarnung interpretiert wurde (Armbrust) , da es angeblich kein signifikant erhöhtes Krebs- und Leukämierisiko in den beiden Ortsteilen Farge und Rönnebeck gibt, blieb nicht ohne Kritik. Dabei standen zwei Aspekte im Vordergrund.

Bemängelt wurde das methodische Vorgehen, da die Wissenschaftlerinnen mit den gesamten Ortsteilen Farge und Rönnebeck ein Untersuchungsgebiet abgesteckt haben, das nicht nur die Straßen umfasst, die auf oder in der Nähe der Kontaminationsfahne liegen und für die von der Umweltbehörde und dem Gesundheitsamt eine Warnung vor der Verwendung des Brunnenwassers ausgesprochen wurde. Falls es einen Zusammenhang zwischen den Kontaminationen durch das Tanklager und dem Krebsrisiko geben sollte, hätte man also Bewohner, für die diese Gefahr unmittelbar besteht, mit Einwohnern der beiden Ortsteile Farge und Rönnebeck gemischt, für die es vermutlich kein erhöhtes Risiko gibt. Durch die Abgrenzung des Untersuchungsgebietes wird daher – ganz unabhängig von jeder tatsächlichen Abweichung von durchschnittlichen Bremer Werten – ein Mischergebnis ermittelt, das allein aufgrund dieser Verwässerung bereits eine Tendenz zum Durchschnitt aufweist. Die Wissenschaftlerinnen haben also vorab die Möglichkeit reduziert, einen signifikanten Zusammenhang zu finden, weil sie nicht die tatsächliche „Konzentration“ der Leukämiefälle im Bereich der besonders gefährdeten Straßenzüge untersucht haben, sondern stattdessen eine stark verwässerte „Mischung“ in ganz Farge und Rönnebeck. 




               Die Ortsteile Farge und Rönnebeck als Untersuchungsgebiet (Quelle: Luttmann/ Eberle,                März 2013 , S. 2)



In der Sondersitzung des Blumenthaler Beirats zur Krebsstudie Mitte Juni 2013 wurde diese Kritik zwar akzeptiert, die Vorgehensweise jedoch durch fehlende Daten für die betroffenen Straßen und die geringe Fallzahl gerechtfertigt.




Der Signifikanzstreit




Die weitere Kritik bezog sich vor allem auf die Beurteilung des Ergebnisses, und zwar die tatsächliche Signifikanz des Resultats für die Benzol-affinen Krebserkrankungen. Hier wurde von der Fraktion der Linken in der Beiratssitzung aufgrund einer statistischen Ausarbeitung die verwendete Methode zur Signifikanzmessung und -bewertung infrage gestellt.

Dabei ist generell zu beachten, dass ein Signifikanzniveau, wie es in der Statistik verwendet wird, um zufällige von nicht zufälligen Ereignissen zu unterscheiden, nicht mit den objektiven Schwellen verwechselt werden darf, wie man sie etwa vom Wasser bei den Marken von 0 Grad oder 100 Grad kennt. Jedes Signifikanzniveau ist hingegen wie auch jeder Schwellenwert bei „zulässigen“ Schadstoffkonzentrationen eine Konvention, die vermutlich plausibel ist und auf die sich Fachleute geeinigt haben. Bei diesen Werten ändert sich jedoch keineswegs schlagartig die Konsistenz eines Materials wie beim Wasser, das sich in Eis oder Wasserdampf verwandelt. Auch verkehrt sich nicht eine Aussage, die bei einem Wert von von 1,3 als signifikant und wahr gilt, in ihr Gegenteil, wenn man einen Wert von nur 1,29 ermittelt. Vielmehr handelt es sich bei den interessierenden Kontaminationen und Wahrscheinlichkeiten um fließende Werte, für die zumeist Expertengremien feste Grenzen, eben Schwellenwerte oder Signifikanzniveaus, mehr oder weniger willkürlich festlegen.

Konkret ging es in diesem Fall um die Frage, ob man die Konvention für eine ein- oder eine zweiseitige Fragestellung anwenden muss. Das war bei der Bewertung durchaus von Bedeutung, da im ersten Fall das Ergebnis für Farge und Rönnebeck kein signifikant erhöhtes Risiko bedeutet hätte, im zweiten Fall aber sehr wohl.

In einer zweiten Auswertung vom Juli 2013 haben die beiden Wissenschaftlerinnen des Krebsregisters zu diesem Streit nochmals ausführlich Stellung genommen. Dabei sind sie zu einem Ergebnis gelangt, das statistische Methodologen sicherlich brennend interessieren dürfte, aber den betroffenen Kranken wenig über die mögliche Ursache ihrer verlorenen Gesundheit sagt.

Sie haben jedenfalls festgestellt, dass im Prinzip die Einwände der Kritiker zwar theoretisch berechtigt sind, es jedoch üblich ist, in kleinräumigen Krebsstudien die abweichende Signifikanzkonvention zu verwenden ( Luttmann/ Eberle, Juli 2013, S. 3f). Leser dieser Krebsstudien müssen also immer berücksichtigen, dass die Ergebnisse möglicherweise durch eine falsche Konvention bei dem anzuwendenden Konfidenzbereichs beeinflusst sind.

Es dürfte daher nicht so falsch sein, sich immer auch mit den wahrscheinlichsten Werten zu beschäftigen, auch wenn sie diesem Konventionswirrwarr nicht genügen. Danach liegen die Risiken für die Benzol-affinen Krebserkrankungen im Untersuchungsgebiet Farge/ Rönnebeck deutlich über den Werten für Bremen.



Entwarnung für Farge




Als Entgegnung auf die in der Blumenthaler Beiratssitzung geäußerte Kritik an ihrer ersten Studie haben die Wissenschaftlerinnen des Bremer Krebsregisters noch eine zusätzliche Auswertung durchgeführt. Dabei wurden die Daten der alten Studie für das Untersuchungsgebiet aus den beiden Ortsteilen Farge und Rönnebeck ausschließlich für den Ortsteil Farge ausgewertet.

In dieser Anschlussuntersuchung kommen sie für diesen Ortsteil, nach dem das Tanklager benannt ist und in dem sich fast alle Straßen befinden, deren Anwohner vor der Verwendung von Brunnenwasser gewarnt wurden, zu einer beruhigenden Aussage. In Farge besteht kein gegenüber Bremen erhöhtes Risiko bei den Benzol-affinen Krebserkrankungen, also der Leukämie im weitesten Sinne. Mit den Boden- und Grundwasserkontaminationen durch die Leckagen des Tanklagers Farge sind danach also keine statistisch nachweisbaren vermehrten Krebserkrankungen in Farge verbunden.



Der ungeklärte Rest: Die Rönnebeck-Anomalie



So sieht die Argumentation des Bremer Krebsregisters aus, einer Institution, die der Gesundheitsbehörde untersteht. Sie hat zunächst ein kaum geeignetes Untersuchungsgebiet abgegrenzt, ein fragwürdiges Signifikanzniveau für die Bewertung ihrer Ergebnisse gewählt und anschließend in einer ergänzenden Untersuchung ein erhöhtes Krebs- und Leukämierisiko für Farge ausgeschlossen.

Diese anscheinende Fixierung auf die Suche nach nicht signifikanten Zusammenhängen hat offenbar dazu geführt, dass eine Folge dieser Argumentation völlig übersehen wurde. Wenn für die beiden Ortsteile Farge und Rönnebeck ein erhöhtes Krebsrisiko besteht, für den Ortsteil Farge hingegen nicht, kann es nur eine logisch und mathematisch korrekte Schussfolgerung geben: Der Ortsteil Rönnebeck muss aufgrund der statistischen Daten ein erhöhtes Leukämie-Risiko aufweisen.



Erkrankungen an Leukämien und Lymphome in Farge und Rönnebeck 2000 -2009

Lokalisationen
Farge/ Rönnebeck (1)
Farge allein (2)
Rönnebeck (errechnet)
Gruppe III
9
2
7
Gruppe IV
50
15
35
Gruppe V
57
17
40
Quellen: (1) Luttmann/ Eberle, März 2013, S. 10.
(2) Luttmann/ Eberle Juli 2013, S. 2.

Diese theoretische Ableitung wird auch durch die Zahlen des Krebsregisters bestätigt, denn von 57 relevanten Krebserkrankungen entfallen 17 auf Farge (Luttmann/ Eberle, Juli 2013, S. 2) und damit 40 auf Rönnebeck. Das ist deutlich mehr als in Rönnebeck aufgrund seiner höheren Einwohnerzahl bei einem gleichen Leukämierisiko zu erwarten wäre. In Rönnebeck besteht damit ein Krebsrisiko, das deutlich über dem bereits überzufällig erhöhten von Farge und Rönnebeck insgesamt liegt.

Auf einen noch unerforschten Rönnebeck-Effekt, der für das gegenüber Farge erhöhte Risiko rechnerisch verantwortlich ist, entfallen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Einwohnerzahlen der beiden Ortsteile ca. 15 zusätzliche Erkrankungen in Rönnebeck innerhalb der erfassten 10 Jahre oder ein bis zwei Fälle pro Jahr. Das dürften für Außenstehende nicht unbedingt viele sein, für die jeweils Betroffenen jedoch zu viele. Verglichen mit dem berühmten Leukämiecluster Elbmarsch ist es zumindest eine Größenordnung, die auch durchaus wissenschaftliches Interesse verdient.


Erwartbare Werte für Rönnebeck bei dem Risiko von Farge

Lokalisation
Fälle in Farge
Erwartbare Fälle
in Rönnebeck
Tatsächlich gemeldete
Fälle in Rönnebeck
Differenz
Gruppe III
2
3
7
4
Gruppe IV
15
23
35
12
Gruppe V
17
26
40
14
Anmerkung: Berechnet bezogen auf eine Einwohnerzahl von 2937 in Farge und 4511 in Rönnebeck. (Quelle. Stat. Landesamt (Hg.), Stat. Jahrbuch 2009)

Diese Abweichung von der erwarteten Norm ist zunächst einmal nur ein rechnerisches Faktum, das in der Tanklager-Diskussion ursprünglich nicht erwartet werden konnte. Damals konzentrierte sich das Interesse der Einwohner, die auf der Kontaminationsfahne oder in ihrer Nähe leben oder arbeiten müssen, auf diesen Gefahrenbereich am Rande des Tanklagers.

Die Ausweitung auf die gesamten Ortsteile Farge und Rönnebeck in der ersten Studie des Krebsregisters konnte daher als ein Versuch erscheinen, einen möglichen Zusammenhang möglichst nicht entdecken zu müssen.

Jetzt hat im Nachhinein die Vorgehensweise des Krebsregisters, wenn man ihre Daten dazu benutzt, die Vergleichswerte für Rönnebeck zu errechnen, zu einem ganz unerwarteten anomalen Resultat geführt. In Rönnebeck besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für Erkrankungen, die der„ Gesamtheit der malignen Erkrankungen des hämatopoetischen Systems“ zuzurechnen sind oder verkürzt vor allem für NHL bzw. MM. 



Beschwerden bei Leukämien und Lymphomen

Lokalisation Beschwerden
Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) Müdigkeit, allgemeines Krankheitsgefühl, Infektanfälligkeit, Bauch- und Knochenschmerzen
Multiples Myelom (MM) Müdigkeit und Lustlosigkeit, Rückenschmerzen wie bei Bandscheibenschäden durch Knochenbrüche und -schwund, Übelkeit und Erbrechen, Infektanfälligkeit
Leukämien Müdigkeit und Lustlosigkeit, Infektanfälligkeit, Blutungsneigung
Quelle: www.nhl-info.de




Getrunkenes Brunnenwasser als Exposition



Einen ersten Vorschlag für eine wissenschaftliche Erklärung der Leukämieerkrankungen hat der Rekumer Medizinprofessor Dr. Chantelau gemacht, für den in Farge und Rönnebeck späte Anschlüsse an die kommunale Wasserversorgung und eine langzeitige Verwendung des Brunnenwassers als Trinkwasser denkbar sind. (Drieling 2014)



Krebserkrankungen in Farge/ Rönnebeck im Zeitraum 2000 – 2009

Lokalisationen
2000 -2004
2005 - 2009
Veränderung
Gruppe III
3
6
3
Gruppe IV
22
28
6
Gruppe V
25
32
7

Quelle: Luttmann/ Eberle, März 2013, S. 10.

Allerdings gibt es für einen unterschiedlichen Zeitverlauf in Farge und Rönnebeck bisher noch keine Belege. Auch spricht ein zeitlicher Anstieg der gemeldeten Krebserkrankungen vor allem im Zeitraum 2005 – 2009, wie er aus der Studie des Krebsregisters hervorgeht (Luttmann/ Eberle, März 2013, S. 10), nicht gerade für diese Hypothese, da in den letzten Jahrzehnten das Brunnenwasser immer weniger getrunken worden sein dürfte.

Allerdings verdient der Hinweis trotzdem Beachtung, da er einen klaren Weg der Exposition über den Magen-Darm-Trakt zu den letzthin verantwortlichen menschlichen Körperzellen aufzeigt, also von einem statistischen Zusammenhang zu einer medizinischen Erklärung führt.



Ein Bürgerantrag zur Rönnebeck-Anomalie



Jedoch bleibt es bei diesen vorliegenden Ergebnissen offen, ob und wie die statistisch nachgewiesene Rönnebeck-Anomalie durch Kontaminationen des Tanklagers Farge hervorgerufen ist. Ein Bürgerantrag, der Ende April im Blumenthaler Beirat auf der Tagesordnung stand, hat daher von der Gesundheitsbehörde und dem Krebsregister eine nähere Analyse der Leukämieerkrankungen für Rönnebeck gefordert.

Ziel muss es aufgrund des neuen Informationsstandes schließlich nicht sein, ein erhöhtes Leukämierisiko aufgrund des Tanklagers Farge auszuschließen oder nachzuweisen, wie es bisher vom Krebsregister versucht wurde. Schließlich ist das Ergebnis dieser Versuche sehr unbefriedigend; denn danach müsste man ein erhöhtes Risiko für die Ortsteile Farge und Rönnebeck insgesamt annehmen, für Farge allein hingegen nicht. Aufgrund der Zahlen lässt sich daher, wie es hier versucht wurde, für Rönnebeck ein erhöhtes Leukämierisiko aus den Auswertungen des Krebsregisters errechnen, wobei es jedoch völlig offen ist, ob diese Rönnebeck-Anomalie mit dem Tanklager Farge in einem Zusammenhang steht, da es dafür bisher keine gesicherten Anhaltspunkte gibt.

Daher muss es jetzt vorrangig um eine Leukämieprophylaxe in Rönnebeck gehen, die für alle denkbaren Erkrankungsursachen offen ist. Das erfordert eine Aufschlüsselung der Fälle von NHL und MM sowie ihre Kartierung in Rönnebeck, damit man erste Hinweise auf mögliche Konzentrationen und damit Entstehungsbedingungen erhält. So lassen sich möglicherweise Ursachen für das erhöhte Erkrankungs- und Sterberisiko finden, die man dann beseitigen kann, um ganz konkret einem oder zwei Menschen pro Jahr die Diagnose „Leukämie“ zu ersparen.


Quellen:

Armbrust, Fritz-W., Beirat will weitere Analysen. Sondersitzung zur Krebsanalyse: Verseuchtes Grundwasser nicht als Ursache nachweisbar, in: Weser Report vom 23.6.2013.

Drieling, Regina, Krebsfälle lösen Betroffenheit aus. Kontaminiertes Grundwasser: Anwohner im Gespräch mit Beirat und Ortsamtsleiter, in: BLV vom 19.12.2012.

Dies., Auffällige Zahl von Leukämie-Fällen. Professor Ernst Chantelau referierte auf Einladung der Tanklager-Initiative, in: BLV vom 12.3.2014.

Luttmann, Sabine und Eberle, Andrea, Kleinräumige Analyse zur Krebsinzidenz in der Region um das Tanklager Farge,Bremen März 2013.

Dies., Stellungnahme zur Beiratssitzung beim Ortsamt Blumenthal am 19.06.2013 bzgl. der „Kleinräumigen Analyse zur Krebsinzidenz in der Region um das Tanklager Farge“, Bremen Juli 2013.

Robert-Koch-Institut (Hg.), Krebs in Deutschland 2009/2010. 9. Ausgabe, Berlin 2013.



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