Donnerstag, 29. Mai 2014

Europawahl: Bremen




Mehr Rot und Blau, deutlich weniger Gelb, Grün und Schwarz



Ein Europawahlresultat mit Bremer Besonderheiten




Bremen als kleinster deutscher Stadtstaat unterscheidet sich auch bei der Europawahl 2014 durch seine hohen Stimmenanteile für die SPD, die Grünen und die Linke sowie den geringen Anteil für die CDU von den übrigen Bundesländern. Dabei konnten die Sozialdemokraten und Linkssozialisten ihre Position sogar noch weiter ausbauen.

Besonders bemerkenswert ist dabei das Abschneiden der Linken, die hier leicht gewinnen konnte, während sie in Deutschland insgesamt eingebüßt hat. Damit kann diese Partei ihren langen Aufwärtstrend bei Europawahlen fortsetzen, denn die Linke und ihre Vorgängerpartei, die PDS, hat seit 1999 ebenso wie die Grünen und die kleinen Parteien in Bremen zulegen können, während die beiden großen Parteien in diesen 15 Jahren etwa jeweils 10 Prozentpunkte eingebüßt haben.

Für das aktuelle Wahlergebnis sind vor allem Entwicklungen in den großflächigen innenstadtnahen Bremer Altbaugebieten mit ihrer Alternativkultur verantwortlich. In diesen Hochburgen haben die Grünen deutlich eingebüßt, während die Linke hier so stark hinzugewonnen hat, dass sie hier und nicht in den WiN-Gebieten ihre Wählerschwerpunkte ausbauen konnten.

Diese offensichtliche Wählerwanderung lässt sich neben der gesetzten Wahlkampfstrategie möglicherweise auch auf das ausgeprägte Bewusstsein von einer Armutsproblematik in Bremen zurückführen, das zur Stimmabgabe für eine Partei führt, die nicht ökologische, sondern soziale Frage in den Vordergrund rückt.


                                        Straßburg (Quelle: Wikipedia)



Bremen weist als Zwei-Städte-Bundesland eine Reihe von Unterschieden gegenüber den anderen Bundesländern auf, die außer den beiden weiteren Stadtstaaten Berlin und Hamburg auch größere Teile des ländlichen Raumes umfassen. Nicht zuletzt führt diese besondere Siedlungs- und Sozialstruktur an der Weser zu einem Wählerverhalten, das sich deutlich von dem in Deutschland insgesamt unterscheidet.

Das hat sich zuletzt wieder bei der Europawahl am 25. Mai dieses Jahrs gezeigt. (vgl. Tabelle) Danach sind die rot-rot-grünen Parteien weiterhin erheblich stärker als im deutschen Durchschnitt. Das gilt neben den Sozialdemokraten, die in Bremen mit demselben Ergebnis wie im Saarland einen deutschen Spitzenwert erzielten, auch für die Grünen, die hier nach Berlin eine zweite Hochburg besitzen. Wenn man sich auf die alten Bundesländer beschränkt, hat auch die Linke im kleinsten Bundesland ihr bestes Wahlergebnis. Hier kann das Saarland offenbar nicht mehr von seinem alten Lafontaine-Bonus zehren, wie das noch 2009 der Fall war.

Bremen weist hingegen nach Berlin den zweitniedrigsten Wert für die CDU auf. Ähnlich sieht es bei der inzwischen ohnehin dezimierten FDP aus.



Vergleich der Stimmenanteile im Bund und im Land Bremen bei der Europawahl 2014 in %

Partei
Bremen
Deutschland
Differenz
CDU/CSU
22,4
35,3
-12,9
SPD
34,4
27,3
7,1
Grüne
17,6
10,7
6,9
FDP
3,3
3,4
-0,1
Linke
9,6
7,4
2,2
AfD
5,8
7,0
-1,2
Piraten
2,0
1,4
0,6
Sonstige
4,9
7,5
-2,6
Wahlbeteiligung
40,3
48,1
-7,8



Bei der jetzigen Wahl ist es kaum zu einer Anpassung an die nationale Wählerentwicklung gekommen. (vgl.Tabelle) Vielmehr hat sich Bremen als ein Land erwiesen, das sich von seiner politischen Umgebung unterscheidet. So hat die CDU kräftiger verloren als im übrigen Bundesgebiet, wenn man von der CSU mit ihrem eigenen Auftritt bei Europawahl absieht. Allerdings ist in ihrer Hochburg der Zugewinn der SPD geringer ausgefallen als in anderen Bundesländern.


Wahlverhalten bei den Europawahlen 2009 – 2014 (Stimmenanteile in %)

Partei
2014
2009
Differenz
Differenz in Deutschland
CDU/CSU
22,4
24,5
-2,1
Nur CDU (1): -0,5
SPD
34,4
29,3
5,1
6,5
Grüne
17,6
22,1
-4,5
-1,4
FDP
3,3
8,9
-5,6
-7,6
Linke
9,6
7,2
2,4
-0,1
AfD
5,8
-
5,8
7,0
Piraten
2,0
1,1
0,9
0,6
Wahlbeteiligung
40,3
38,1
2,2
4,9
(1) Der Verlust von CDU/ CSU insgesamt beträgt -2,5 Prozentpunkte, die vor allem auf die CSU entfallen, deren Anteil in Bayern um -7,6 Prozentpunkte von 48,1 % auf 40,5 % gesunken ist.


Besonders deutliche Abweichungen findet man jedoch für die Grünen und die zweite "rote" Partei, die Linke. So haben die Grünen mit -4,5 Prozentpunkten hier gleich hoch verloren wie in Berlin, während sie in allen anderen Bundesländern besser abgeschnitten haben.

Die Linke schließlich hat in Bremen einen gegenüber 2009 höheren Wähleranteil gewonnen, während sie im Durchschnitt ganz leicht verloren hat. Das hat dazu geführt, dass sie jetzt in Bremen ihr bestes Ergebnis in den alten Bundesländern aufweist.



Längerfristige Wählerentwicklungen




Da der Zugewinn der SPD auf das schlechteste Europawahlergebnis dieser Partei in der vorangegangenen Wahl folgt, kann ein Blick auf die älteren Wahlergebnisse zu einer korrekteren Einschätzung der aktuellen Entwicklung verhelfen. Nur so kann man die Frage beantworten, ob es sich nur um einen Ausgleich von alten Verlusten oder einen realen Zugewinn handelt. (vgl. Tabelle)


Entwicklung des Wahlverhaltens bei den Europawahlen im Land Bremen 2004 – 14 (Stimmenanteile in %)

Partei
2014
2004
Differenz
CDU/CSU
22,4
28,0
-5,6
SPD
34,4
30,5
3,9
Grüne
17,6
22,3
-4,7
FDP
3,3
6,3
-3,0
Linke/ PDS
9,6
3,7
5,9
Sonstige
12,7
9,2
3,5





Wahlbeteiligung
40,3
37,3
3,0


Trotz des Stimmeneinbruchs als Folge der Agenda-Politik und der Großen Koalition zwischen 2005 und 2009 hat die SPD danach insgesamt ihren Wähleranteil ausweiten können. Verlierer in den letzten Jahren waren hingegen – und zwar in dieser Reihenfolge – die CDU, die Grünen und die FDP. Den deutlichsten Zuwachs erzielte die Linke, wenn man die Daten mit der ihrer Vorgängerpartei PDS vergleicht.

Für einen erheblich stärkeren Umbruch hat der große Erfolg der Grünen in der Europawahl 2004 gesorgt, wie ein Vergleich mit den Zahlen von 1999 belegt.




Entwicklung des Wahlverhaltens bei den Europawahlen im Land Bremen 1999 – 2014 (Stimmenanteile in %)

Partei
2014
1999
Differenz
CDU/CSU
22,4
34,8
-12,4
SPD
34,4
43,7
-9,3
Grüne
17,6
12,2
5,4
FDP
3,3
2,9
0,4
Linke/ PDS
9,6
2,6
7,0
Sonstige
12,7
3,8
8,9





Wahlbeteiligung
40,3
43,8
-3,5


In diesem Zeitraum von fünfzehn Jahren haben sich die Stimmenanteile vor allem der großen Parteien so stark reduziert, dass dadurch das alte System mit zwei großen Volksparteien seine Bedeutung völlig eingebüßt hat, zumal in der Bürgerschaftswahl 2011 die CDU auch hinter die Grünen zurückgefallen ist.

Den praktisch zweistelligen Verlusten von CDU und SPD in diesem Zeitraum stehen jedoch nicht nur deutliche Gewinne der Grünen gegenüber. In Bremen haben seit 1999 die kleinen Parteien und die Linke noch erheblich stärker zugelegt. Darin dürften eine Unzufriedenheit mit den großen Parteien und die Bedeutung der Armutsthematik in Bremen in den Wahlurnen ihren Niederschlag finden, wie sie auch in einer internationalen Befragung zur Lebensqualität in der Weserstadt zum Ausdruck gekommen ist.




Das Wahlverhalten in den Sozialräumen



Die Abweichungen des Bremer Wahlverhalten gegenüber dem Bund insgesamt lassen sich, wie sich das schon für die Bundestagswahl im letzten September gezeigt hat, zu einem großen Teil aus den Besonderheiten seiner Sozialraumtypen erklären. Das gilt sowohl von den Verhaltensmustern innerhalb der verschiedenen Typen als auch dem jeweiligen Gewicht der Sozialraumtypen innerhalb Bremens.

In der folgenden Tabelle werden die fünf Typen betrachtet, die bei der Bundestagswahl vor gut einem halben Jahr die Anteile der Parteien besonders stark differenziert haben. 




Wähleranteile in ausgewählten Bremer Sozialräumen 2014 (Angaben in %)


Partei
WiN-Gebiete
Single-Gebiete
Gebiete mit wenigen Ausländern
Gebiete mit hohem soziale Status
Gebiete mit vielen alten Menschen
SPD
43,1
25,2
34,3
26,6
34,4
CDU
18,5
10,9
31,3
26,8
27,5
Grüne
9,5
31,8
14,5
23,7
15,1
FDP
1,8
1,9
3,6
6,4
4,4
Linke
12,5
17,3
5,0
7,1
6,2
Piraten
2,2
3,5
1,1
1,6
1,3
AfD
6,5
3,0
6,8
4,7
7,5
Tierschutz
1,3
1,9
0,9
1,0
1,1
NPD
1,1
0,3
0,5
0,1
0,4
Die Partei
1,0
2,5
0,5
0,8
0,4







Wahlbeteiligung
26,0
49,3
49,4
59,8
47,2
(1) Zu den betrachteten Typen und den benutzten Ortsteilen vergleiche den entsprechenden Blogartikel „Die Bundestagswahl 2013 in den Bremer Sozialräumen“)


Von ihrer Einwohnerzahl her besitzen in Bremen die Quartiere ein relativ starkes Gewicht, in denen überdurchschnittlich viele Empfänger von Transferleistungen leben. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um die Großsiedlungen der 1960-er und 1970-er Jahre sowie alte Arbeiterwohngebiete, in denen im Zuge der Globalisierung und des sektoralen Strukturwandels viele industrielle Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Diese Areale werden in Bremen als Fördergebiete im Rahmen eines besonderen Programms recht euphorisch mit WiN für „Wohnen in Nachbarschaften“ bezeichnet.


Die übrigen Sozialräume müssen ohne diese spezielle Hervorhebung durch die Bremer Stadtpolitik auskommen und sind daher ausschließlich statistisch definierte Gebietseinheiten.

Die Parteien haben innerhalb dieser Typen jeweils recht klare Hochburgen, so die Sozialdemokraten in den WiN-Gebieten, die Grünen in den Single-Wohngebieten und die FDP in den Gebieten mit einem hohen sozialen Status. Diese Verteilung entspricht weitgehend dem üblichen sozialen Wissen über Wohngebiete und hat sich auch bereits bei anderen Wahlen gezeigt.

Weniger bekannt und diskutiert sind hingegen Entwicklungen, die sich bereits beim Wahlverhalten in der Bundestagswahl 2013 abgezeichnet haben. Das gilt für die CDU, die ihre höchsten Wähleranteile in den Gebieten mit einem niedrigen Ausländerstatus erzielt, also in Wohngebieten, die von den Folgen der Globalisierung mit ihrer Arbeitsmigration wenig betroffen sind.

Eine deutliche Änderung zeigt sich jetzt bei der Linken, die zwar weiterhin überdurchschnittlich gut in den WiN-Gebieten abschneidet, jedoch in den Single-Wohngebieten einen zusätzlichen Schwerpunkt weiter ausbauen konnten, der sogar einen noch höheren Stimmenanteil aufweist. Hier scheinen neben dem Umweltschutz soziale Fragen verstärkt eine Rolle zu spielen, für die die alternativ ausgerichtete Wählerschaft einen anderen Ansprechpartner gesucht und teilweise auch gefunden hat.

Sind derartige Trends häufig bereits durch Wählerbefragungen mehr oder weniger bekannt, bietet eine sozialräumliche Analyse für die kleinen Parteien, die in Befragungen meist nur wenig vertreten sind, zusätzliche Informationen an. Dadurch können nicht selten sogar Annahmen und Vorurteile über diese Parteien empirisch getestet werden.

Betrachtet werden hier die Parteien, die in Bremen in fast jedem Ortsteil einige Stimmen erhalten haben und aufgrund ihres Wähleranteils in Deutschland mindestens einen Angeordneten ins Europaparlament entsenden können.


Eher alternativ ausgerichtete Parteien, die vor allem jüngere Wähler ansprechen, haben danach ihre Hochburgen in den innenstadtnahen Altbaugebieten, wo die Grünen stärkste Partei sind. Das gilt sowohl für die Piraten als auch die Spaßpartei „Die Partei“, deren Vorsitzender, der Satiriker Martin Sonneborn, mit 0,6% der Stimmen bundesweit gerade noch nach Straßburg gekommen ist.

Sogar die Tierschutzpartei besitzt in diesem Sozialraumtyp mit seinen Vegetariern und Veganern ihre Hochburgen.

Die Alternative für Deutschland (AfD), die auch in Bremen ihr Bundestagswahlergebnis übertreffen konnte, hat wie schon bei der Bundestagswahl im vorigen Jahr einen Schwerpunkt in den WiN-Gebieten. Noch höhere Anteile hat sie jedoch in den Wohngebieten erzielt, die von den Folgen der ökonomischen und sozialen Umbrüche der letzten Jahre und Jahrzehnte relativ wenig betroffen worden sind, also den Quartieren, in denen nur relativ wenige Ausländer und überdurchschnittlich viele ältere Menschen leben.

Damit unterscheidet sch ihre sozialräumliche Stuktur eindeutig von der der NPD, die nur in WiN-Gebieten deutlich über die Schwelle von einem Prozent kommt.



Sozialräumliche Faktoren der Gewinne und Verluste


Die aktuellen Tendenzen des Bremer Wahlergebnisses lassen sich durch diese kleinen Parteien, die abgesehen von der Tierschutzpartei erstmals angetreten sind, nicht erklären, weil dazu ihr Stimmenanteil nicht ausreicht. Es ist daher ein Blick auf die Verschiebungen bei den größeren Parteien erforderlich, wo sich zwischen den Sozialräumen deutliche Unterschiede zeigen. (vgl. Tabelle)


Veränderungen in ausgewählten Bremer Sozialräumen zwischen 2009 und 2014 (Stimmenanteile in %)

Partei
WiN-Gebiete
Single-Gebiete
Gebiete mit wenigen Ausländern
Gebiete mit hohem soziale Status
Gebiete mit vielen alten Menschen
SPD
3,9
3,6
5,2
8,2
5,5
CDU
-2,7
-1,2
0,9
-1,5
-2,7
Grüne
-4,3
-7,7
-3,7
-7,6
-4,1
FDP
-4,6
-4,4
-7,6
-6,9
-6,1
Linke
2,8
5,5
0,7
2,7
1,6
Piraten
1,4
1,1
0,5
0,7
0,7






Wahlbeteiligung
-1,3
3,1
1,5
3,4
1,4

Die größten Verschiebungen sind dabei neben den durchgängigen hohen Verlusten der FDP deutliche Abweichungen der anderen Parteien in den unterschiedlichen Sozialraumtypen.

Danach haben die Sozialdemokraten weniger in ihren angestammten Hochburgen, also in den WiN-Gebieten, sondern vor allem in den Räumen zulegen können, wo sie bisher eher schwächer vertreten waren. Es trifft in erster Linie für die Gebiete mit einem hohen sozialen Status zu.

Die überdurchschnittlich hohen Verluste der Grünen resultieren aus ihrem schlechten Abschneiden in dem Quartierstyp, der in Bremen besonders stark vertreten ist und früher für die herausragenden Werte der Grünen in der Stadt verantwortlich waren: Jetzt findet man in diesen innenstadtnahen Altbaugebieten im und um das Viertel, wo sich eine Alternativkultur mit vielen Single-Haushalten entwickelt hat, jedoch ganz erheblich gesunkene Anteilswerte. Hier stehen jetzt hohen Verlusten der Grünen nicht ganz so ausgeprägte, aber dennoch beachtliche Gewinne der Linken gegenüber.

Da diese Viertel in Bremen teilweise in Quartiere mit einem hohen sozialen Status übergehen, sodass eine Abgrenzung eher theoretischer Natur ist, zeigt sich sogar in den klassischen bürgerlichen Wohngebieten ein ähnlicher Trend.

Diese Teile der Stadt sind daher in einem hohen Maße für das vom Bundestrend abweichende Bremer Wahlergebnis bei den Grünen und den Linken verantwortlich.

Für die verglichen zum Bundestrend leicht unterdurchschnittlichen Gewinne der SPD und die relativ hohen Verluste der CDU ist rein rechnerisch die Entwicklung in den WiN-Gebieten zumindest mitveranwortlich. Hier konnte die SPD ihre bestehende starke Stellung kaum weiter ausbauen, während die schwache CDU kein zusätzliches Wählerterrain hinzugewinnen konnte, sondern trotz der FDP-Verluste hier möglicherweise von den Gewinnen der erstmals kandidierenden AfD ähnlich wie in den Gebieten betroffen war, in denen relativ viele ältere Menschen leben.

Sofern sich diese Tendenzen, die sich kaum auf die spezielle Ausrichtung einer Europawahl zurückführen lassen, bis zur Bürgerschaftswahl nicht ändern, muss man auch im kommenden Jahr mit entsprechenden Verschiebungen der Stimmenanteile und damit der Mandate in der Bremer Bürgerschaft sowie in den Beiräten rechnen.



Quellen:

Statistischen Landesamt Bremen (Hg.), Europawahl im Lande Bremen am 13. Juni 2004. Vorläufiges Wahlergebnis, Bremen Juni 2004 (Statistische Mitteilungen Heft 107)

Dass., Statistischen Landesamt Bremen (Hg.), Europawahl im Lande Bremen am 7. Juni 2009. Vorläufiges Wahlergebnis, Bremen Juni 2014 (Statistische Mitteilungen. Heft 111)

Dass., Europawahl am 25. Mai 2014 im Land Bremen. Vorläufiges Wahlergebnis, Bremen Mai 2014 (Statistische Mitteilungen. Heft 118)



Dienstag, 27. Mai 2014

Krebs: Rönnebeck



Die Rönnebeck-Anomalie 




Die Entdeckung eines erhöhten Leukämierisikos in einem Blumenthaler Ortsteils




Um mögliche gesundheitliche Auswirkungen der Boden- und Grundwasserkontaminationen durch Leckagen auf dem Areal des Tanklagers Farge zu untersuchen, hat das Bremer Krebsregister im Jahr 2013 kleinräumige Krebsstudien für die Ortsteile Farge und Rönnebeck erarbeitet. Dabei wurden die Leukämien und Lymphome als Benzol-affine Krebserkrankungen als wichtige Indikatorgruppe betrachtet.

Auch wenn das Ergebnis der ersten und einer späteren Anschlussauswertung umstritten ist, ergibt sich aus den veröffentlichten Daten ein überraschendes Resultat für den Bremer Ortsteil Rönnebeck. Dort liegen die Erkrankungen vor allem an Non-Hodgkin-Lymphomen (NHL) und Multiplen Myelomen (MM) sehr deutlich über dem Bremer Durchschnitt, sodass man hier verkürzt von einer Rönnebeck-Anomalie sprechen kann.

Ende April 2014 wurde daher durch einen Bürgerantrag im Blumenthaler Beirat eine gezielte Suche nach möglichen Ursachen gefordert, um das Risiko vermeidbarer Krebsneuerkrankungen mit ihren vielfältigen Belastungen für die Betroffenen und deren Angehörige in Rönnebeck zu beseitigen.




         Vermehrung von Plasmazellen (Große ovale Zellen mit breitem Zytoplasma und exzentrisch              gelegenem Zellkern) beim Multiplen Myelom (Quelle: wikipedia)



Die Leukämiediagnose


Die Diagnose „Leukämie“ ist auch in einer Zeit, in der die Medien häufig von Fortschritten in der Krebsforschung berichten und die Ärzte ihre Therapieerfolge bei frühzeitigen Diagnosen herausstellen, noch immer ein harter Schicksalsschlag. In vielen Fällen ist damit die Aussicht auf ein Leben verbunden, das niemals wieder so sein wird wie zuvor. Die Betroffenen müssen sich vielmehr mit einer Zukunft abfinden, die durch gravierende Einschränkungen, Schmerzen und auch Phasen von Hoffnungslosigkeit gekennzeichnet ist.

Und auch wenn man immer wieder von einem erfolgreichen Kampf Einzelner gegen den Krebs hört, bleiben die Blicke auf die medizinischen Statistiken ernüchternd. Dort können sich die Kranken auf den Hyperbeln einordnen, die teilweise sogar für innovative Medikamente von Monat zu Monat deutlich sinkende durchschnittliche Wahrscheinlichkeiten anzeigen (vgl. Diagramm), in denen die Krankheit gestoppt ist. Das sind Zahlen, die nicht nur etwas über das Todesrisiko aussagen, sondern auch über ein Leben davor, in dem nur notorische Optimisten wirklich ungetrübte positive Erfahrungen finden können.




Verbesserte Überlebensrate durch das Medikament Imnovid (Pomalidomid (POM)) (Quelle: Präsentation der MM003-Studie durch Katja C. Weisel, Juni 2013)


Das Leukämieschicksal ist jedoch nicht nur weitgehend unentrinnbar, sondern schlägt fast heimtückisch zu. Während sich andere Krebserkrankungen zumindest teilweise durch das Rauchen oder die Arbeit mit Asbest erklären lassen, konnten bisher für die Lokalisationen, die man gemeinhin unter „Leukämie“ zusammenfasst, keine relativ gesicherten Erklärungen gefunden werden. Die Krankheit kann jeden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit treffen, sie ist daher so etwas wie der negative Gegenpol zu einem Lottogewinn, wobei die Erkrankung sogar Jahrzehnte vor einer Erstdiagnose begonnen haben kann, ohne dass sie wegen der langen Latenzzeit bemerkt wurde.

Die ständige menschliche Suche nach Ursachen stößt hier auf ein großes Rätsel, da in der heutigen Zeit kaum noch jemand die Krankheit als eine göttliche Strafe interpretieren wird, wie das früher der Fall war. Immerhin weist die Krankheit durchaus Ähnlichkeiten mit biblischen oder mittelalterlichen Strafmaßnahmen auf, wenn auch in Zeiten der Apparatemedizin manche Therapien an ein Fegefeuer erinnern. Nicht-Mediziner sehen dann vor allem die Schmerzen und das Leiden, während für sie eine Besserung sehr, sehr weit entfernt zu sein scheint.

Auch wenn es den Betroffenen selbst nicht mehr hilft, werden sie daher vor allem nur einen Weg sehen, um diesem zufälligen Fluch zu entgehen: die Senkung aller Risikofaktoren, die zu Leukämie- und allen anderen Krebserkrankungen führen.



Leukämien und Lymphome nach „Krebs in Deutschland 2013“


Lokalisation ICD-10 (1)
Sterbera-te (M) (2)
Sterbe-rate (F)
Erkran-kungs-
rate (M)
Erkran
kungs-rate (F)
Absolute
Überlebens-rate (M) (3)
Absolute Überlebens-rate (F)
Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) C 82- C 85
5,1
3,3
21,4
18,3
58
59
Multiples Myelom (MM) C 90
3,2
2,2
8,4
6,7
39
40
Leukämien C 91 -C 95
6,5
4
16,6
11,4
47
47
Krebs insgesamt

19,9
12,4
629,4
539,9
52
59
Quelle: Krebs in Deutschland 2013, S. 16, 17, 18, 116, 120 und 124.  

Anmerkung:
(1) ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das aktuell wichtigste, weltweit anerkannte Diagnoseklassifikationssystem der Medizin.

(2) Die Sterbe- und Erkrankungsraten beziehen sich auf die Zahl der Fälle, die pro 100.000 Einwohner gemeldet werden. Dabei werden wegen der Geschlechtsunterschiede Werte für Männer (M) und Frauen (F) getrennt ausgewiesen.

(3) Die Absolute Überlebensrate stellt den Prozentanteil der Patientinnen und Patienten dar, die fünf Jahre nach ihrer Diagnose noch leben.





Der Tanklagerskandal in Farge und Rönnebeck


Damit stehen sie nicht allein; denn Ängste vor einer Krebserkrankung sind bekanntlich sehr verbreitet. Und das nicht ohne Grund, wie die entsprechenden Statistiken und Meldungen über steigende Krebserkrankungen allein aufgrund der insgesamt höheren Lebenserwartung belegen (vgl. Krebs in Deutschland, S. 6).


Daher haben die Anwohner des Tanklagers Farge, nachdem die dortigen Boden- und Grundwasserkontaminationen mit BTEX, also den Kohlenwasserstoffen Benzol, Toluol, Ethylbenzol und Xylolen, sowie dem verwandten Kohlenwasserstoff MTBE durch die Medien Ende 2012 thematisiert wurden (Drieling 2012) und die Bremer Umwelt- und Gesundheitsbehörde mehrfach die Anwohner einer Reihe von Straßen in Farge und Rönnebeck vor der Verwendung ihres Brunnenwassers warnen mussten, schnell nach einem möglicherweise erhöhten Krebsrisiko gefragt. Immerhin wurden die Anwohner erstmals im Mai 2009 darüber informiert, dass die Verwendung des Brunnenwassers zu „gesundheitlichen Wirkungen“ wie z.B. Reizungen der Augen, Haut und Atemwege, Schwindel, Kopfschmerz oder Schädigungen der Nieren führen kann. Abschließend gab es noch den nicht weiter kommentierten lapidaren Hinweis: „Benzol gilt darüber hinaus als krebserregend.“




               Areal des Tanklagers Farge (Quelle: Luttmann/ Eberle, März 2013 , S. 1)


Nicht zuletzt hat diese Sorge um die eigene Gesundheit zur Gründung der „Bürgerinitiative zur Erhaltung des Wasserschutzgebietes Blumenthal und Aufklärung der Verseuchung von Grund, Wasser und Boden durch das Tanklager Farge“ geführt und zu einer Umkehr der Haltung der großen Parteien in Blumenthal und Bremen. Nachdem sie sich zunächst vorrangig für die Erhaltung der Arbeitsplätze im Tanklager eingesetzt hatten, rückte auch bei ihnen nach und nach die Vermeidung gesundheitlicher Risiken in den Vordergrund und führte letztendlich zur Schließung des Tanklagers und zur angekündigten Rückgabe der Betriebsgenehmigung.

Um mehr Klarheit zu erhalten, wurde über Bürgeranträge eine Analyse möglicher gesundheitlicher Auswirkungen der Tanklager-Leckagen gefordert. Darauf hat das Bremer Krebsregister nach einer Anfrage des Blumenthaler Ortsamtsleiters im März 2013 mit einer kleinräumigen Auswertung seiner Daten reagiert.

In dieser Studie (Luttmann/ Eberle, März 2013) haben sich die Autorinnen genauer mit den Krebserkrankungen beschäftigt, bei denen für Benzol beispielsweise nach den Angaben der International Agency for Research on Cancer (IARC) eine „krebserzeugende Wirkung beim Menschen .. seit mehreren Jahrzehnten als bewiesen“ gilt.

Daher wurden drei Gruppen von Erkrankungen differenziert für Farge und Rönnebeck betrachtet, und zwar zunächst „akute myeloische bzw. nicht lymphatische Leukämien“ (Gruppe III in der Untersuchung).

Da auch „für die Non-Hodgkin-Lymphome, zu denen heutzutage auch die akuten und chronischen lymphatischen Leukämien gezählt werden, sowie für das Multiple Myelom von der IARC ein begrenzt nachgewiesener Zusammenhang belegt“ wurde, haben die Autorinnen diese Erkrankungen gemeinsam mit der Gruppe III als weitere Untersuchungsgruppe IV ausgewiesen.

Um schließlich den Problemen gerecht zu werden, die aus der schwierigen „Abgrenzung der verschiedenen Formen hämatologischer Krebserkrankungen anhand von Krebsregisterdaten“ resultieren, „insbesondere wenn die Meldung über die Krebserkrankungen ausschließlich über die Todesbescheinigung erfolgt“, wurde von den Wissenschaftlerinnen schließlich als weitere Gruppe die „Gesamtheit der malignen Erkrankungen des hämatopoetischen Systems“ gebildet und untersucht (Gruppe V) (Ebenda, S. 6)


Diese Gruppe V umfasst damit alle Benzol-affinen Krebslokalisationen, die in der Untersuchung betrachtet werden, und schließt die Gruppe IV ein, die wiederum die Gruppe III als Teilmenge neben den an Non-Hodgkin-Lymphomen und Multiplen Myelomen Erkrankten umfasst.
Die im Untersuchungsgebiet gemeldeten Fälle verteilen sich auf die einzelnen Lokalisationen recht unterschiedlich. So wurden für die Ortsteile Farge und Rönnebeck dem Krebsregister im Zeitraum 2000 - 2009 insgesamt 57 Fälle gemeldet, von denen nur 9 der Gruppe III zugerechnet werden. Das Gros stellen somit Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) und Multiple Myelome (MM) mit insgesamt 41 Fällen, die nicht weiter aufgeschlüsselt wurden. (Ebenda, S. 10)



Verwässerte Ergebnisse




Diese Studie, die von den Behörden als Entwarnung interpretiert wurde (Armbrust) , da es angeblich kein signifikant erhöhtes Krebs- und Leukämierisiko in den beiden Ortsteilen Farge und Rönnebeck gibt, blieb nicht ohne Kritik. Dabei standen zwei Aspekte im Vordergrund.

Bemängelt wurde das methodische Vorgehen, da die Wissenschaftlerinnen mit den gesamten Ortsteilen Farge und Rönnebeck ein Untersuchungsgebiet abgesteckt haben, das nicht nur die Straßen umfasst, die auf oder in der Nähe der Kontaminationsfahne liegen und für die von der Umweltbehörde und dem Gesundheitsamt eine Warnung vor der Verwendung des Brunnenwassers ausgesprochen wurde. Falls es einen Zusammenhang zwischen den Kontaminationen durch das Tanklager und dem Krebsrisiko geben sollte, hätte man also Bewohner, für die diese Gefahr unmittelbar besteht, mit Einwohnern der beiden Ortsteile Farge und Rönnebeck gemischt, für die es vermutlich kein erhöhtes Risiko gibt. Durch die Abgrenzung des Untersuchungsgebietes wird daher – ganz unabhängig von jeder tatsächlichen Abweichung von durchschnittlichen Bremer Werten – ein Mischergebnis ermittelt, das allein aufgrund dieser Verwässerung bereits eine Tendenz zum Durchschnitt aufweist. Die Wissenschaftlerinnen haben also vorab die Möglichkeit reduziert, einen signifikanten Zusammenhang zu finden, weil sie nicht die tatsächliche „Konzentration“ der Leukämiefälle im Bereich der besonders gefährdeten Straßenzüge untersucht haben, sondern stattdessen eine stark verwässerte „Mischung“ in ganz Farge und Rönnebeck. 




               Die Ortsteile Farge und Rönnebeck als Untersuchungsgebiet (Quelle: Luttmann/ Eberle,                März 2013 , S. 2)



In der Sondersitzung des Blumenthaler Beirats zur Krebsstudie Mitte Juni 2013 wurde diese Kritik zwar akzeptiert, die Vorgehensweise jedoch durch fehlende Daten für die betroffenen Straßen und die geringe Fallzahl gerechtfertigt.




Der Signifikanzstreit




Die weitere Kritik bezog sich vor allem auf die Beurteilung des Ergebnisses, und zwar die tatsächliche Signifikanz des Resultats für die Benzol-affinen Krebserkrankungen. Hier wurde von der Fraktion der Linken in der Beiratssitzung aufgrund einer statistischen Ausarbeitung die verwendete Methode zur Signifikanzmessung und -bewertung infrage gestellt.

Dabei ist generell zu beachten, dass ein Signifikanzniveau, wie es in der Statistik verwendet wird, um zufällige von nicht zufälligen Ereignissen zu unterscheiden, nicht mit den objektiven Schwellen verwechselt werden darf, wie man sie etwa vom Wasser bei den Marken von 0 Grad oder 100 Grad kennt. Jedes Signifikanzniveau ist hingegen wie auch jeder Schwellenwert bei „zulässigen“ Schadstoffkonzentrationen eine Konvention, die vermutlich plausibel ist und auf die sich Fachleute geeinigt haben. Bei diesen Werten ändert sich jedoch keineswegs schlagartig die Konsistenz eines Materials wie beim Wasser, das sich in Eis oder Wasserdampf verwandelt. Auch verkehrt sich nicht eine Aussage, die bei einem Wert von von 1,3 als signifikant und wahr gilt, in ihr Gegenteil, wenn man einen Wert von nur 1,29 ermittelt. Vielmehr handelt es sich bei den interessierenden Kontaminationen und Wahrscheinlichkeiten um fließende Werte, für die zumeist Expertengremien feste Grenzen, eben Schwellenwerte oder Signifikanzniveaus, mehr oder weniger willkürlich festlegen.

Konkret ging es in diesem Fall um die Frage, ob man die Konvention für eine ein- oder eine zweiseitige Fragestellung anwenden muss. Das war bei der Bewertung durchaus von Bedeutung, da im ersten Fall das Ergebnis für Farge und Rönnebeck kein signifikant erhöhtes Risiko bedeutet hätte, im zweiten Fall aber sehr wohl.

In einer zweiten Auswertung vom Juli 2013 haben die beiden Wissenschaftlerinnen des Krebsregisters zu diesem Streit nochmals ausführlich Stellung genommen. Dabei sind sie zu einem Ergebnis gelangt, das statistische Methodologen sicherlich brennend interessieren dürfte, aber den betroffenen Kranken wenig über die mögliche Ursache ihrer verlorenen Gesundheit sagt.

Sie haben jedenfalls festgestellt, dass im Prinzip die Einwände der Kritiker zwar theoretisch berechtigt sind, es jedoch üblich ist, in kleinräumigen Krebsstudien die abweichende Signifikanzkonvention zu verwenden ( Luttmann/ Eberle, Juli 2013, S. 3f). Leser dieser Krebsstudien müssen also immer berücksichtigen, dass die Ergebnisse möglicherweise durch eine falsche Konvention bei dem anzuwendenden Konfidenzbereichs beeinflusst sind.

Es dürfte daher nicht so falsch sein, sich immer auch mit den wahrscheinlichsten Werten zu beschäftigen, auch wenn sie diesem Konventionswirrwarr nicht genügen. Danach liegen die Risiken für die Benzol-affinen Krebserkrankungen im Untersuchungsgebiet Farge/ Rönnebeck deutlich über den Werten für Bremen.



Entwarnung für Farge




Als Entgegnung auf die in der Blumenthaler Beiratssitzung geäußerte Kritik an ihrer ersten Studie haben die Wissenschaftlerinnen des Bremer Krebsregisters noch eine zusätzliche Auswertung durchgeführt. Dabei wurden die Daten der alten Studie für das Untersuchungsgebiet aus den beiden Ortsteilen Farge und Rönnebeck ausschließlich für den Ortsteil Farge ausgewertet.

In dieser Anschlussuntersuchung kommen sie für diesen Ortsteil, nach dem das Tanklager benannt ist und in dem sich fast alle Straßen befinden, deren Anwohner vor der Verwendung von Brunnenwasser gewarnt wurden, zu einer beruhigenden Aussage. In Farge besteht kein gegenüber Bremen erhöhtes Risiko bei den Benzol-affinen Krebserkrankungen, also der Leukämie im weitesten Sinne. Mit den Boden- und Grundwasserkontaminationen durch die Leckagen des Tanklagers Farge sind danach also keine statistisch nachweisbaren vermehrten Krebserkrankungen in Farge verbunden.



Der ungeklärte Rest: Die Rönnebeck-Anomalie



So sieht die Argumentation des Bremer Krebsregisters aus, einer Institution, die der Gesundheitsbehörde untersteht. Sie hat zunächst ein kaum geeignetes Untersuchungsgebiet abgegrenzt, ein fragwürdiges Signifikanzniveau für die Bewertung ihrer Ergebnisse gewählt und anschließend in einer ergänzenden Untersuchung ein erhöhtes Krebs- und Leukämierisiko für Farge ausgeschlossen.

Diese anscheinende Fixierung auf die Suche nach nicht signifikanten Zusammenhängen hat offenbar dazu geführt, dass eine Folge dieser Argumentation völlig übersehen wurde. Wenn für die beiden Ortsteile Farge und Rönnebeck ein erhöhtes Krebsrisiko besteht, für den Ortsteil Farge hingegen nicht, kann es nur eine logisch und mathematisch korrekte Schussfolgerung geben: Der Ortsteil Rönnebeck muss aufgrund der statistischen Daten ein erhöhtes Leukämie-Risiko aufweisen.



Erkrankungen an Leukämien und Lymphome in Farge und Rönnebeck 2000 -2009

Lokalisationen
Farge/ Rönnebeck (1)
Farge allein (2)
Rönnebeck (errechnet)
Gruppe III
9
2
7
Gruppe IV
50
15
35
Gruppe V
57
17
40
Quellen: (1) Luttmann/ Eberle, März 2013, S. 10.
(2) Luttmann/ Eberle Juli 2013, S. 2.

Diese theoretische Ableitung wird auch durch die Zahlen des Krebsregisters bestätigt, denn von 57 relevanten Krebserkrankungen entfallen 17 auf Farge (Luttmann/ Eberle, Juli 2013, S. 2) und damit 40 auf Rönnebeck. Das ist deutlich mehr als in Rönnebeck aufgrund seiner höheren Einwohnerzahl bei einem gleichen Leukämierisiko zu erwarten wäre. In Rönnebeck besteht damit ein Krebsrisiko, das deutlich über dem bereits überzufällig erhöhten von Farge und Rönnebeck insgesamt liegt.

Auf einen noch unerforschten Rönnebeck-Effekt, der für das gegenüber Farge erhöhte Risiko rechnerisch verantwortlich ist, entfallen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Einwohnerzahlen der beiden Ortsteile ca. 15 zusätzliche Erkrankungen in Rönnebeck innerhalb der erfassten 10 Jahre oder ein bis zwei Fälle pro Jahr. Das dürften für Außenstehende nicht unbedingt viele sein, für die jeweils Betroffenen jedoch zu viele. Verglichen mit dem berühmten Leukämiecluster Elbmarsch ist es zumindest eine Größenordnung, die auch durchaus wissenschaftliches Interesse verdient.


Erwartbare Werte für Rönnebeck bei dem Risiko von Farge

Lokalisation
Fälle in Farge
Erwartbare Fälle
in Rönnebeck
Tatsächlich gemeldete
Fälle in Rönnebeck
Differenz
Gruppe III
2
3
7
4
Gruppe IV
15
23
35
12
Gruppe V
17
26
40
14
Anmerkung: Berechnet bezogen auf eine Einwohnerzahl von 2937 in Farge und 4511 in Rönnebeck. (Quelle. Stat. Landesamt (Hg.), Stat. Jahrbuch 2009)

Diese Abweichung von der erwarteten Norm ist zunächst einmal nur ein rechnerisches Faktum, das in der Tanklager-Diskussion ursprünglich nicht erwartet werden konnte. Damals konzentrierte sich das Interesse der Einwohner, die auf der Kontaminationsfahne oder in ihrer Nähe leben oder arbeiten müssen, auf diesen Gefahrenbereich am Rande des Tanklagers.

Die Ausweitung auf die gesamten Ortsteile Farge und Rönnebeck in der ersten Studie des Krebsregisters konnte daher als ein Versuch erscheinen, einen möglichen Zusammenhang möglichst nicht entdecken zu müssen.

Jetzt hat im Nachhinein die Vorgehensweise des Krebsregisters, wenn man ihre Daten dazu benutzt, die Vergleichswerte für Rönnebeck zu errechnen, zu einem ganz unerwarteten anomalen Resultat geführt. In Rönnebeck besteht ein deutlich erhöhtes Risiko für Erkrankungen, die der„ Gesamtheit der malignen Erkrankungen des hämatopoetischen Systems“ zuzurechnen sind oder verkürzt vor allem für NHL bzw. MM. 



Beschwerden bei Leukämien und Lymphomen

Lokalisation Beschwerden
Non-Hodgkin-Lymphome (NHL) Müdigkeit, allgemeines Krankheitsgefühl, Infektanfälligkeit, Bauch- und Knochenschmerzen
Multiples Myelom (MM) Müdigkeit und Lustlosigkeit, Rückenschmerzen wie bei Bandscheibenschäden durch Knochenbrüche und -schwund, Übelkeit und Erbrechen, Infektanfälligkeit
Leukämien Müdigkeit und Lustlosigkeit, Infektanfälligkeit, Blutungsneigung
Quelle: www.nhl-info.de




Getrunkenes Brunnenwasser als Exposition



Einen ersten Vorschlag für eine wissenschaftliche Erklärung der Leukämieerkrankungen hat der Rekumer Medizinprofessor Dr. Chantelau gemacht, für den in Farge und Rönnebeck späte Anschlüsse an die kommunale Wasserversorgung und eine langzeitige Verwendung des Brunnenwassers als Trinkwasser denkbar sind. (Drieling 2014)



Krebserkrankungen in Farge/ Rönnebeck im Zeitraum 2000 – 2009

Lokalisationen
2000 -2004
2005 - 2009
Veränderung
Gruppe III
3
6
3
Gruppe IV
22
28
6
Gruppe V
25
32
7

Quelle: Luttmann/ Eberle, März 2013, S. 10.

Allerdings gibt es für einen unterschiedlichen Zeitverlauf in Farge und Rönnebeck bisher noch keine Belege. Auch spricht ein zeitlicher Anstieg der gemeldeten Krebserkrankungen vor allem im Zeitraum 2005 – 2009, wie er aus der Studie des Krebsregisters hervorgeht (Luttmann/ Eberle, März 2013, S. 10), nicht gerade für diese Hypothese, da in den letzten Jahrzehnten das Brunnenwasser immer weniger getrunken worden sein dürfte.

Allerdings verdient der Hinweis trotzdem Beachtung, da er einen klaren Weg der Exposition über den Magen-Darm-Trakt zu den letzthin verantwortlichen menschlichen Körperzellen aufzeigt, also von einem statistischen Zusammenhang zu einer medizinischen Erklärung führt.



Ein Bürgerantrag zur Rönnebeck-Anomalie



Jedoch bleibt es bei diesen vorliegenden Ergebnissen offen, ob und wie die statistisch nachgewiesene Rönnebeck-Anomalie durch Kontaminationen des Tanklagers Farge hervorgerufen ist. Ein Bürgerantrag, der Ende April im Blumenthaler Beirat auf der Tagesordnung stand, hat daher von der Gesundheitsbehörde und dem Krebsregister eine nähere Analyse der Leukämieerkrankungen für Rönnebeck gefordert.

Ziel muss es aufgrund des neuen Informationsstandes schließlich nicht sein, ein erhöhtes Leukämierisiko aufgrund des Tanklagers Farge auszuschließen oder nachzuweisen, wie es bisher vom Krebsregister versucht wurde. Schließlich ist das Ergebnis dieser Versuche sehr unbefriedigend; denn danach müsste man ein erhöhtes Risiko für die Ortsteile Farge und Rönnebeck insgesamt annehmen, für Farge allein hingegen nicht. Aufgrund der Zahlen lässt sich daher, wie es hier versucht wurde, für Rönnebeck ein erhöhtes Leukämierisiko aus den Auswertungen des Krebsregisters errechnen, wobei es jedoch völlig offen ist, ob diese Rönnebeck-Anomalie mit dem Tanklager Farge in einem Zusammenhang steht, da es dafür bisher keine gesicherten Anhaltspunkte gibt.

Daher muss es jetzt vorrangig um eine Leukämieprophylaxe in Rönnebeck gehen, die für alle denkbaren Erkrankungsursachen offen ist. Das erfordert eine Aufschlüsselung der Fälle von NHL und MM sowie ihre Kartierung in Rönnebeck, damit man erste Hinweise auf mögliche Konzentrationen und damit Entstehungsbedingungen erhält. So lassen sich möglicherweise Ursachen für das erhöhte Erkrankungs- und Sterberisiko finden, die man dann beseitigen kann, um ganz konkret einem oder zwei Menschen pro Jahr die Diagnose „Leukämie“ zu ersparen.


Quellen:

Armbrust, Fritz-W., Beirat will weitere Analysen. Sondersitzung zur Krebsanalyse: Verseuchtes Grundwasser nicht als Ursache nachweisbar, in: Weser Report vom 23.6.2013.

Drieling, Regina, Krebsfälle lösen Betroffenheit aus. Kontaminiertes Grundwasser: Anwohner im Gespräch mit Beirat und Ortsamtsleiter, in: BLV vom 19.12.2012.

Dies., Auffällige Zahl von Leukämie-Fällen. Professor Ernst Chantelau referierte auf Einladung der Tanklager-Initiative, in: BLV vom 12.3.2014.

Luttmann, Sabine und Eberle, Andrea, Kleinräumige Analyse zur Krebsinzidenz in der Region um das Tanklager Farge,Bremen März 2013.

Dies., Stellungnahme zur Beiratssitzung beim Ortsamt Blumenthal am 19.06.2013 bzgl. der „Kleinräumigen Analyse zur Krebsinzidenz in der Region um das Tanklager Farge“, Bremen Juli 2013.

Robert-Koch-Institut (Hg.), Krebs in Deutschland 2009/2010. 9. Ausgabe, Berlin 2013.