Dienstag, 23. Juli 2013

Sozialräume: Modell


Sozialräumliche Grundlagen einer sozialkohärenten Stadtpolitik 

Modell und Beispiele


Die soziale Ungleichheit einer Gesellschaft spiegelt sich in einer unterschiedlichen Verteilung der sozialen Schichten und Gruppen auf die Quartiere einer Stadt wider. Dabei kommt es zu einer mehr oder weniger ausgeprägten Differenzierung oder Segregation nach dem sozialen Status, der Stellung im Familienzyklus und der ethnischen Herkunft. Auf diese Weise entstehen innerhalb einer Stadt verschiedene Sozialräume, die jeweils unterschiedliche Kombinationen der Verteilungsmerkmale aufweisen.


Eine Analyse städtischer Probleme und Aufgaben mithilfe dieser Sozialräume bietet eine Reihe von Vorteilen: In diesen Raumtypen findet man unterschiedliche Verhaltensmuster, wie sich am Wahl- und Gesundheitsverhalten exemplarisch zeigen lässt. Dadurch bestehen abweichende Bedarfsstrukturen, die sozialraumspezifische Maßnahmen vor allem der kommunalen Sozial-, Jugend-, Bildungs- und Gesundheitsressorts verlangen.

Da sich Städte nach dem Grad ihrer sozialräumlichen Differenzierung unterscheiden, können Segregationsindizes eine wichtige Kontrollgröße für eine Politik darstellen, die eine zu starke räumliche Polarisierung verhindern. Das gilt vor allem für Ghettobildungen, die eine Integration von ausgegrenzten Minderheiten erschweren und bestehende individuelle Problemlagen der Bewohner noch verstärken, aber auch zu delinquenten Subkulturen führen können, die durch Vermüllung, Vandalismus und Kriminalität auffallen.

Um diesen Fragenkreis besser erfassen zu können, wurde in den letzten Jahren und Jahrzehnten vor allem aus pragmatischen Gründen die klassische Sozialraumanalyse durch einen weiteren Verteilungsmechanismus ergänzt, der sich auf zentrale soziale Problemlagen bezieht. Dabei steht vor allem die Einkommensarmut im Vordergrund, die durch die Abhängigkeit von Transferzahlungen erfasst wird. Beispiele hierfür sind in Bremen der Benachteiligungsindex der Sozialbehörde und ein Vermutungsindex für soziale und städtebauliche Problemlagen im Rahmen des Monitorings Soziale Stadt Bremen.

Praktisch erfassen diese Indizes die Verteilung der Einwohner, die Transferleistungen nach Hartz IV beziehen oder Klienten der Sozialintervention sind. Daher dürfen diese Begriffskonstrukte, auch wenn sie teilweise komplexe Rechenkalküle besitzen, nicht überbewertet werden. Eine Fokussierung der Stadtpolitik auf diese durch ihre Bezeichnungen überfrachteten Universalindizes begünstigt daher eine fragwürdige eindimensionale Problemsicht.

Häufig wird vermutlich aus politischen Gründen auf eine sachgerechte breite Darstellung der Sozialräume verzichtet und die Thematik praktisch auf die Ausweisung von Quartieren konzentriert, deren Bewohner besonders häufig auf Transferzahlungen angewiesen sind. Dadurch lassen sich zwar gesellschaftspolitische Ansatzpunkte gewinnen, wobei jedoch die unterschiedliche Verteilung von Migranten und Infrastruktureinrichtungen auf die verschiedenen Sozialräume, an der die Kommunen selbst in erheblichem Maße beteiligt sind, weitgehend ausgeklammert bleibt.

Auch fehlen bei dieser armutspolitischen Fokussierung gesamtstädtische Aspekte, so dass sich die Stadtentwicklung leicht auf einen sozialen Reparaturbetrieb reduziert sehen kann.



Sozialräumliche Strukturen und Disparitäten


Städte waren und sind in sich differenziert geordnet. Das zeigen besonders eindrucksvoll mittelalterliche Städte, wo wir noch heute die Gebäude der reichen Patrizier und Kaufleute am Marktplatz finden, während an der und aus Kostengründen sogar in der Stadtmauer die erheblich bescheideneren Unterkünfte der ärmeren Stadtbewohner stehen. Neben dem Einkommen und Vermögen haben auch die Berufe den Wohnsitz innerhalb alter Städte bestimmt, was sich häufig noch an den aus dieser Zeit erhaltenen Straßennamen ablesen lässt. So lebten die Angehörigen der Zünfte in mehr oder weniger geschlossenen Straßenzügen also in einer Becker- oder Bäckerstraße, in einer Böttcher- oder in einer Knochenhauerstraße. Für andere Handwerker gab es für diese Anordnung konkrete Gründe, da die Müller und Färber Wasser benötigten und die Schmiede wegen der hohen Brandgefahr in der Nähe der Stadtmauer untergebracht wurden.



Die Bedeutung des Immobilienmarktes


Das hat sich im Zuge der Industrialisierung und Marktwirtschaft geändert, da jetzt ein Wettbewerb um die Standorte innerhalb einer Stadt besteht, wobei auf dem Gebiet der Wohnimmobilien die Boden- und Mietpreise sowie die Bedürfnisse und Präferenzen der Bewohner und Zuziehenden die Allokation bestimmen.

Im Zuge ihres raschen Wachstums in dieser Zeit haben sich die Städte in konzentrischen Kreisen ins Umland ausgebreitet, indem vor allem Familien mit Kindern in den suburbanen Raum gezogen sind, seit sich die Entfernungen zu den innerstädtischen Arbeitsplätzen durch den ÖPNV und vor allem die Verbreitung der Pkws leicht überbrücken lassen.

Da diese Möglichkeit in den ersten Jahrzehnten der Industrialisierung noch nicht bestanden, waren die Arbeiter und kleinen Angestellten damals meist auf Wohnungen in der Nähe ihrer Arbeitsplätze angewiesen. Das zeigt sich etwa an den Werkswohnungen, die meist in unmittelbarer Nachbarschaft zum Unternehmen errichtet wurden. Wer hingegen keine festen Arbeitszeiten hatte oder sich teure Fahrzeuge leisten konnte, konnten Villen an Standorten wählen, die seinen Präferenzen entsprachen. Dabei wurden meist Gegenden an Flüssen und Parks bevorzugt wie etwa an der Hamburger Elbchaussee und in Blankenese oder in Berlin am Wannsee und in Grunewald.

In Einwanderungsländern wie den USA entstanden zudem spezielle Zuwanderungsgebiete für die verschiedenen Nationalitäten, die sich meist in Gebieten mit preiswertem Wohnraum, also in wenig attraktiven Wohngegenden, befinden. Bekannte 
Beispiele sind hier die Chinatowns etwa in San Francisco, Los Angeles und New York.


Den Verteilungsmechanismus des Marktes veranschaulicht die folgende Tabelle, die die Miethöhe und die Preise für Eigentumswohnungen und Häuser in einigen Bremer Ortsteilen zeigt. Dabei lassen sich die deutlichen Unterschiede zwischen den gehobenen Vierteln Bürgerpark und Borgfeld sowie dem Arbeiterquartier Gröpelingen und der Großsiedlung Tenever sowie dem eher dörflichen Vorort Rekum erkennen. Dabei gibt es jedoch nicht nur Preisunterschiede aufgrund der Lage, sondern auch abweichende Angebotsstrukturen, denn in Borgfeld und Rekum werden fast nur Häuser angeboten.


Immobilienmarkt (Juli 2013) in ausgewählten Ortsteilen Bremens


Ortsteil
Miete
EW
Häuser
An deil der Wohnungen
Anteil der Häuser
Bürgerpark
9,0 €/qm 
2.300 €/qm 
833.000 €
33 %
67 %
Borgfeld
7,5 €/qm 
1.700 €/qm 
423.000 €
 2 %
98 %
Gröpelingen
5,3 €/qm 
900 €/qm 
124.000 €
58 %
42 %
Tenever
5,2 €/qm 
700 €/qm 
180.000 €
27 %
73 %
Rekum
5,4 €/qm
650 €/qm 
183.000 €
2 %
98 %


Das Shevky-Bell-Modell

Dieses Verteilungsmodell konnte in einer 1949 von Shevky und Williams veröffentlichten Studie über Los Angeles erstmals empirisch überprüft werden. Dabei stellte sich heraus, dass die Verteilung der Wohnbevölkerung nach drei zentralen Dimensionen erfolgt.


Sozialräumliche Verteilungsdimensionen und ihre Indikatoren



Verteilungsdimension
Statistische Indikatoren

Sozialer Status
Arbeiteranteil, Volksschüleranteil, Durchschnittseinkommen, Wohnfläche pro Einwohner
Familaler Status
Frauenerwerbsquote, Anteil der Einfamilienhäuser,
Anteil der unter 18-jährigen, Anteil der 6-jährigen
Ethnischer Status
Ausländeranteil


In den folgenden Jahren wurden diese Befunde durch weitere Arbeiten von Shevky/Bell (1955) und später eine Vielzahl faktorialökologischer Studien, in denen die räumlichen oder ökologischen Korrelationen der Indikatoren mithilfe der Faktorenanalyse ausgewertet wurden, abgesichert.

Dabei ist der dritte Faktor weniger eindeutiger als die beiden anderen, da er eine entsprechende Zuwanderung voraussetzt. Falls es sich um Gebiete mit einem besonders niedrigen Mietniveau handelt, findet man hier auch andere einkommensschwache Bevölkerungsgruppen. Das gilt als Folge der Globalisierung und des Abbaus industrieller Arbeitsplätze in Deutschland auch für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger bzw. Hartz IV-Bezieher.

Man kann daher heute auch in vielen deutschen Städten von segregierter Armut sprechen, da über den Wohnungsmarkt einkommensschwache Bevölkerungsgruppe in Quartiere abdrängt werden, in denen relativ preiswerter Wohnraum zur Verfügung steht. Das sind häufig die inzwischen unbeliebten Großsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre sowie alte Arbeiterviertel.

Aufgrund dieses Verteilungsmechanismus können daher „die meisten Nichtdeutschen heute dort leben, wo zugleich die meisten armen Inländer wohnen – und genau hier wachsen innerhalb der Städte auch die meisten Kinder auf.“ (Farwick, Emscherregion, S. 18)


Sozioökonomische und soziokulturelle Trends und ihre Auswirkungen auf die städtischen Sozialräume

Gerade dieser Wandel in der Sozialstruktur weist auf die Abhängigkeit der städtischen Verteilungsmuster bei der Wohnbevölkerung von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen hin. So spielt mit der Expansion des Dienstleistungssektors die für das industrielle Zeitalter prägende Trennung von Arbeitern und Angestellten eine immer geringere Rolle. Ähnlich sieht es bei der Wahl von familienorientierten Wohnformen im Grünen aus, die früher zumindest in den USA zu weitläufigen Vorstädten mit Einfamilienhäusern auf großen Grundstücken geführt haben. Heute lassen sich für die entsprechenden Indikatoren wie den Arbeiteranteil oder die Frauenerwerbsquote hingegen kaum mehr aktuelle Daten finden, da diese Merkmale an Bedeutung verloren haben. 

Zumindest in Deutschland haben hingegen die Bezieher sozialer Transferleistungen, also vor allem der Sozialhilfe und heute der Zahlungen nach dem SGB einen Umfang erreicht, der die Verteilung ihrer Bezieher zu einem wichtigen Element der sozialräumlichen Stadtstruktur macht. 

Um dieses Problem einer segregierten Armut diagnostizieren und auch unter räumlichen Aspekten mildern zu können, wurde daher ein statistisches Instrumentarium erstellt.


Soziale Segregation und soziale Disparitäten als Probleme


Soziale Disparitäten innerhalb einer Stadt sind nicht nur eine normale Auswirkung der sozialen Schichtung einer Gesellschaft und der Wirkungsmechanismen des Wohnungsmarktes. Sie werden und müssen auch als soziale Brennpunkte erkannt werden, wenn Grenzwerte überschritten werden und sich durch die räumliche Kumulierung die individuellen Folgen etwa des Ausländerstatus oder der Abhängigkeit von Transferleistungen des Staates noch verstärken, sich also etwa aufgrund des Wohnsitzes die Kontakte auf die neue segregierte Nachbarschaft konzentrieren, in der sich die Betroffenen ohne große Änderungsambitionen einrichten.

In empirischen Untersuchungen sind diese Folgen greifbar geworden; denn der Ausstieg aus einer Armutslage erfolgt solchen Armutsinseln erheblich seltener als in Gebieten mit geringer Sozialhilfedichte, und zwar um 37% weniger, oder in Gebieten mit mittlerer Sozialhilfedichte, wo der Unterschied noch 17 % beträgt. (Farwick, S. 179)

Für diesen Effekt werden vor allem drei Gründe genannt: die häufig schlechtere infrastrukturelle Versorgung dieser Gebiete etwa mit Ärzten, Kindergärten und Schulen, das Erlernen von Handlungsmuster, die den Ausstieg verhindern, und stigmatisierende und diskriminierende Einflüsse des Armutsgebiets, die häufig allein schon mit der Adresse verbunden sind. (Farwick, S. 180)


Die Aufgaben von Sozialindikatoren


Eine Stadtpolitik, die starke Segregationen vermeiden und keine negativen Folgen von Ghettobildungen in Kauf nehmen will, muss sich um Informationen bemühen, die ihr eine rechtzeitiges Erkennen unerwünschter Entwicklungen erlauben. Das ist vor allem in größeren Städte geboten, wo auch intime Stadtkenner den Überblick verlieren und vor allem keine objektiven Beurteilungen garantieren können.



Um diese Informationslücke zu schließen, wurden in zahlreichen deutschen Städten Indizes entwickelt, die komprimiert über die jeweils interessierenden Sachverhalte informieren.

Die Beurteilung dieses teilweise ähnlichen, aber auch zuweilen deutlich abweichenden Indexbildungen kann nur vor dem Hintergrund der relevanten Aufgabenerstellungen erfolgen.


Die Beschreibung sozialräumlicher Strukturen und Entwicklungen


Um sich besser in dem sozialen Problemraum Stadt zu orientieren ist als Einstieg in weitere Analysen ein Kurzbeschreibung erforderlich. Indizes können so für die Quartiere eine Art Visitenkarte darstellen, durch die sie sich leicht einordnen lassen, auch wenn man sie selbst nicht aus eigenen Anschauung kennt. Wegen dieser Orientierungsfunktion wurde auch schon von einem Navi für den sozialen Raum einer Stadt gesprochen. 

Neben dieser komprimierten Kennzeichnung der Quartiere lassen sich auf dieser Informationsgrundlage auch gesamtstädtische Strukturen und Entwicklungen erfassen. Das gilt für die in diesem Zusammenhang vor allem interessierende Segregation.

Wie stark Segregationstendenzen tatsächlich sind, lässt sich durch einen „Index der Segregation“ (IS) statistisch berechnen. Größe ist damit ein Maß für die ungleiche Verteilung einer Personengruppe wie der älteren Menschen, Ausländer oder Hartz IV-Bezieher auf die einzelnen Teilgebiete einer größeren räumlichen Einheit, also etwa in Bremen auf die Ortsteile der gesamten Stadt.

Dieser einfach erscheinende Vergleich von Anteilswerten bereitet im Detail jedoch erhebliche Schwierigkeiten. Ein zentrales Problem ist dabei das Problem der statistischen Durchschnitte, da auch Wohnquartiere, wenn sie von der Statistik als statistische Bezirke oder in Bremen als Ortsteile erfasst werden, in sich nicht inhomogen sind. Generell lässt sich so feststellen, dass bei kleinen Raumeinheiten die innere Homogenität und damit auch die Abweichung vom gesamtstädtischen Durchschnitt größer ist.

Generell steigt daher mit einen kleinteiligeren Gliederung eines Untersuchungsgebietes, die Höhe des Indexwertes, sodass sich problemlos praktisch nur die Verteilung verschiedener Bevölkerungsgruppen in derselben Stadt vergleichen lässt. Dasselbe gilt für Zeitreihen, wenn sich die Abgrenzung der Teilräume nicht geändert hat.

Dieser Segregationsindex kann zwischen 0 (keine Segregation) und 100 (vollständige Segregation) betragen. Sein Wert lässt sich als der Prozentwert der jeweiligen Bevölkerungsgruppe interpretieren, der umziehen müsste, um theoretisch über alle Stadtbezirke hinweg eine durchschnittliche Gleichverteilung in der Gesamtstadt zu erreichen.


Segregationsindizes für verschiedene Bevölkerungsgruppen in Frankfurt am Main (Ende 2009)


Bevölkerungsgruppe
Segregationsindex
Personen mit existenzsichernden Mindestleistungen
22,5
Einwohner mit Migrationshinweis
17,4
Arbeitslose
16,8
Ausländer
16,4
Haushalte mit Kindern
15,3
Alleinerziehende Haushalte
13,7
Nichtwähler
12,7
Einwohner im Alter von 65 Jahren und mehr
11,3
Minderjährige
11,3
Quelle: Frankfurt, S. 78

Wie die Frankfurter Daten in der Tabelle exemplarisch zeigen, ist das Ausmaß der Verteilungsunterschiede bei verschiedenen Merkmalen recht unterschiedlich. Dabei wird vor allem die Bedeutung des Einkommens sichtbar, da die Bezieher von Hartz IV sogar deutlich segregierter leben als Ausländer, Arbeitslose und Einwohner mit einem Migrationshinweis.

Unterschiede bestehen jedoch auch zwischen der Städten, was in einer Vergleichsstudie im Zeitraum 2007-2009 untersucht wurde, in der man mit einer gleich großen Zahl von Raumeinheiten gearbeitet hat, um die Verzerrungen auszuschließen, die allein durch die Zahl der statistischen Bezirke entstehen.

Für die Merkmale Arbeitslosigkeit, Kinderarmut und Bevölkerung mit Migrationshintergrund fand man dabei deutliche Abweichungen. So ergab sich eine Ungleichverteilung „am wenigsten in Frankfurt/Main, München, Stuttgart, Karlsruhe sowie Oberhausen und Mainz“, während Düsseldorf, Heidelberg, Koblenz, Mannheim, Nürnberg und Saarbrücken im Mittelfeld lagen. Die stärkste Ungleichverteilung wurde hingegen in Berlin, Bremen, Dortmund, Hamburg, Halle, Köln und Leipzig beobachtet.“

Auch eine ältere Untersuchung, die allerdings mit den in der jeweiligen Stadtstatistik verwenden räumlichen Einheit arbeitet, kommt für die Verteilung der Sozialhilfeempfänger im Jahr 2004 für Bremen zu einem ähnlichen Ergebnis, wenn man etwa die Hansestadt mit Stuttgart vergleicht.


Segregation von Sozialhilfeempfängern


Stadt
Stat. Raumeinheiten
Segregationsindex 2004
Bremen
77
26,3
Dortmund
62
28,4
Düsseldorf
48
23,3
Essen
50
27,1
Frankfurt
45
17,4
Hannover
48
21,6
Köln
84
27,9
Stuttgart
112
22,3
Wuppertal
64
26,8
Quelle: Farwick, Polarisierung, S. 46

In dieser Studie sind vor allem die Messungen in einem größeren Zeitintervall von Bedeutung, da hier die statistische Verzerrung durch die Zahl der Raumeinheiten keine Rolle spielt. Dabei zeigte sich in Bremen eine steigende Segregation der Sozialhilfeempfänger zwischen 1982 und 2004 von 22,6 auf 26,3, wobei dann mit der Umstellung auf Hartz IV der Segregationsindex im Jahr 2006 auf 25,4 fiel. Eine ähnliche Entwicklung gilt allerdings nicht nur für Bremen, sondern auch für die ebenfalls untersuchten Großstädte Dortmund, Essen und Hannover.


Sozialökologische Analyse des Wahlverhaltens


Mit sozialräumlichen Daten lassen sich jedoch nicht nur Segregationsfragen beantworten. Die Sozialräume können auch als Bezugsgrößen für andere Auswertungen herausgezogen, bei denen ein räumlicher Aspekt eine Rolle spielt. Ein Beispiel ist hier die Wahlforschung.

Wahlergebnisse werden in der Regel für die einzelnen Wahlbezirke ausgezählt und veröffentlicht. Falls sich dabei deren Grenzen mit denen der statistischen Bezirke decken, lassen sich sogenannte ökologische Wahlanalysen durchführen. Diese Art der Wahlforschung, die häufig auch als Wahlgeographie bezeichnet wird, hat eine lange Tradition, da sie ohne einen Rückgriff auf Individualdaten auskommt, die erst relativ zeit- und kostenaufwendig durch eigene Befragungen ermittelt werden müssen. 

In diesem Fall werden die Aussagen nicht über die einzelnen Wähler, sondern über deren Wohngebiete getroffen. Es lässt sich also nicht ermitteln, ob etwa in Quartieren mit hohem Ausländeranteil auch Migranten rechtsextreme Parteien gewählt haben oder die übrige Bevölkerung in einer Reaktion auf den Ausländeranteil ihre Stimmen für diese Parteien abgegeben haben.

Bei dieser kostengünstigen Wahlanalyse muss man daher eine Reihe von Annahmen machen, da sich prinzipiell nur etwas über das Wahlverhalten innerhalb eines Quartiers, aber nichts über die einzelnen Wähler aussagen lässt. Man ist daher bestrebt, relativ homogene Sozialräume für die Analyse auszuwählen.

Das hat auch das Statistische Landesamt Bremen für die Bundestagswahl 2007 versucht, als mit „City, Cityrand“, „Traditionelle bürgerliche Wohn- und Villenviertel“, „Ältere Arbeiterviertel“ und „Großsiedlungen“ vier teilweise an städtebaulichen Merkmalen orientierte Gebietstypen unterschieden wurden.


Wahlbeteiligung in verschiedenen Sozialräumen bei den Bremer Bürgerschaftswahlen 1999 und 2007


Sozialraum

Wahlbeteiligung
1999 in %
Wahlbeteiligung 2007 in %
Entwicklung in Prozentpunkten
City, Cityrand
61,3
62,0
+0,7
Trad. bürgerl. Wohn-, Villenviertel
72,1
69,7
- 2,4
Ältere Arbeiterviertel
56,2
51,5
-4,7
Großsiedlungen
57,8
51,5
-6,3

Bremen

62,0
58,6
-3,4
Quelle: Trends 2007, S.10

An diesen Daten in der Tabelle oben kann man nicht nur die unterschiedlich hohe Wahlbeteiligung in den Sozialräumen ablesen, die zwischen 72,1% und 51,5 % in den beiden Wahlen lag, sondern sogar eine konträre Entwicklung in den Gebietstypen erkennen. Dabei lässt sich allerdings nicht sagen, ob dieser Anstieg im Gebietstyp „City, Cityrand“ bei sonst sinkenden Werten durch einen Austausch der Bewohner oder ein verändertes Wahlverhalten der prägenden sozialen Gruppen entstanden ist.


Anteil der Parteien in den Sozialräumen bei den Bürgerschaftswahlen 1999 und 2007 in %



Sozialraum

SPD 1999
SPD 2007
CDU 1999
CDU 2007
Grüne 1999
Grüne 2007
FDP 1999
FDP 2007
Linke 1999
Linke 2007
City, Cityrand
33,9
27,3
29,5
17,5
21,8
34,4
2,2
5,2
9,1
12,8
Trad. bürgerl. Wohn- ,Villen-viertel
28,4
26,0  
52,3
38,4
10,5
19,7
3,5
7,9
2,2
5,3
Ältere Arbeiterviertel
51,1
44,9  
32,7
22,0
5,4
10,5
1,7
4,6
2,3
9,5
Großsiedlungen
46,4
42,0 
39,5
26,6
4,4
10,3
1,7
5,2
1,6
8,0

Bremen

42,7
37,2
37,7
25,8
9,1
17,3
2,1
5,4
3,1
8,7
Quelle: Trends 2007, S. 11

Teilweise parallel zur Wahlbeteiligung verteilen sich die Unterschiede bei der Parteipräferenz in den Sozialräumen, wo in den bürgerlichen Vierteln mit ihrer hohen Wahlbeteiligung die CDU und FDP überdurchschnittlich stark sind. Sehr auffallenden sind die Anteile der Grünen in der City und am Cityrand, also in zumeist ehemaligen bürgerlichen Altbaugebieten, wo die Grünen 2007 die weitaus stärkste Partei waren.

Neben dieser Entwicklung, die mit einer atypisch höheren Wahlbeteiligung einherging, fällt vor allem der Anstieg der Linken in den Hochburgen der SPD, also den ehemaligen Arbeiterquartieren und den Großsiedlungen auf, wo gleichzeitig die Wahlbeteiligung deutlich zurückging.



Analyse von Gesundheitsuntersuchungen


Sozialräume wurden nicht nur in der Wahlanalyse, sondern auch für die Auswertung von Gesundheitsdaten eingesetzt, die vor allem aus Anonymitätsgründen nur über Raumkoordinaten bzw. Ortsteile erfasst sind, wie das beispielsweise beim Bremer Krebsregister der Fall ist.

Besonders eingehend wurden derartige Gesundheitsdaten für die Berliner Bezirke ausgewertet, die man gleichzeitig durch einen Sozialindex charakterisiert hat.

Dabei zeigen sich beispielsweise deutliche Unterschiede zwischen den Bezirken „Steglitz-Zehlendorf“ mit einem Sozialindexrang von 1 und „Mitte“ auf Rang 12. Hier ist in den Gebieten mit einem niedrigen sozialen Status des Zahnstatus der Kleinkinder und Schüler deutlich behandlungsbedürftiger und die Häufigkeit vermeidbarer Todesursachen erheblich größer als in einem Gebiet mit hohem sozialen Status, wie die beiden folgenden Tabellen veranschaulichen.


Sozialindex und behandlungsbedürftiger Zahnstatus (in%) in Berlin im Jahr 2009/2010 nach Bezirken



Bezirk
Sozialindex

Kleinkinder

Schüler
Steglitz-Zehlendorf
1
10,6
14,9
Mitte
12
24,9
34,8
Quelle: Häßler u.a., S. 71.

Sehr deutlich sind auch die Unterschiede bei den sogenannten vermeidbaren Todesursachen, die in den sozialen Problemvierteln teilweise mehr als doppelt so häufig sind wie in gehobenen Vierteln. Das gilt vor allem für Lebererkrankungen.

Ausgewählte vermeidbare Todesursachen in Berlin zwischen 2008 und 2010 (DMR)


Bezirk
Lungen-
krebs
Ischämische
Herzkrankheiten
Akuter Myro-
kadinfarkt
Hyper-
tonie
Leberer-
krankungen
Alkoholische

Lebererkrankung

Steglitz-Zehlendorf
19,9
27,8
6,5
12,8
9,4
3,8
Mitte
28,9
45,4
11,1
24,8
21,1
9,8


Eine ähnliche Analyse unter dem Schwerpunktthema „Soziale Ungleichheit in der Krebsinzidenz und –mortalität“ hat das Bremer Krebsregister 2008 für die Neuerkrankungen und Todesfälle im Zeitraum 2000-5 unternommen. Dabei wurden die Bremer Ortsteile entsprechend dem Bremer Benachteiligungsindex in fünf Cluster gruppiert, auf die jeweils etwa 100.000 Einwohner entfallen (Eberle u.a, S. 11).
In der Auswertung stieg bei Männern die Neuerkrankungs- und Sterberate mit einer Abnahme des Sozialstatus der Cluster. Dabei war diese Differenz bei der Mortalität mit einer um 45 % höheren Rate deutlicher stärker ausgeprägt als bei der Inzidenz.

Für Frauen zeigte sich hingegen ein anderes Verteilungsmuster, da bei ihnen zwischen den Clustern keine signifikanten Inzidenzunterschiede beobachtet werden konnten. Zwar stieg bei Frauen die Krebssterblichkeit ebenfalls mit einer Abnahme des Sozialstatus an, jedoch in einem erheblich geringerem Maße als bei den Männern. (Eberle u.a, S. 13)

Für die Autoren der Studie wirken „soziale Ungleichheit bzw. Armut als negativer Verstärker der wesentlichen Risikofaktoren für die Krebsentstehung, die schon seit Jahrzehnten bekannt sind: Tabak- und Alkoholkonsum, Ernährungsgewohnheiten und psychosozialer Stress. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Erkrankungsrisiko der einzelnen Menschen nicht deshalb höher oder niedriger ist, weil sie in einem bestimmten Stadtteil wohnen, sondern dass Menschen sich unterschiedlich gesundheitsrelevant verhalten oder unterschiedlichen Rahmenbedingungen, wie z.B. Arbeitsbedingungen, ausgesetzt sind. (Eberle u.a., S. 22)


Jugendhilfe- und Sozialplanung


Weniger analytisch, sondern stärker betriebswirtschaftlich und entscheidungsbezogen ist eine Verwendung von Sozialräumen und ihren Sozialindikatoren in der Jugendhilfe- und Sozialplanung, wie es beispielsweise in Berlin vorgeschlagen und realisiert wurde. Grundidee ist dabei eine Gewichtung der Bevölkerung nach dem Grad ihrer sozialen Benachteiligung, die durch einen verstärkten Finanz- und Personaleinsatz in den jeweiligen Teilebieten kompensiert werden soll. Da man üblicherweise den Bedarf in Relation zur Einwohnerzahl ermittelt, wird bei diesem Verfahren die Einwohnerzahl in sozialen Problemgebieten nicht mit 1 angesetzt, sondern um einen Faktor erhöht, der sich aus einem entsprechenden Sozialindikator ermitteln lässt. So wird etwa in Berlin bei der Jugendhilfeplanung im relativ problemfreien Bezirk Zehlendorf die Zahl der Jugendlichen mit 1 gewichtet, während ein Jugendlicher im Problembezirk Lichtenberg wie 3,9 Zehlendorfer Jugendliche gezählt wird. (S. 100)


Fortsetzung:
II. Der Bremer Benachteiligungsindex in der Diskussion


Quellen:
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Brünner, Marion, Sozialindikatoren, Stadtmonitoring, Lebenslagenbericht – Vernetzte Berichterstattung. Vernetzte Maßnahmenplanung?, Folien zum Vortrag am 27.8.2010.
Denker, Wolfgang, Sozialindikatoren 2005, Bremen 2006.
Derzak, Rolf, Sozialindikatoren 2009. Aktualisierung der Sozialindikatoren, Bremen März 2010.
Farwick, Andreas, Segregierte Armut und soziale Benachteiligung. Zum Einfluss von Wohnquartieren auf die Dauer von Armutslagen, in: Informationen zur Raumentwicklung, 2003, S. 175-185.

Ders., Die räumliche Polarisierung von Armut in der Stadt Ursachen, Ausprägungen und soziale Folgen, in: Arbeitnehmerkammer Bremen (Hg.), Armutsbericht 2007, Bremen 2007.
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Frein, Thomas, Möller, Gerd, Petermann, Andreas und Wilpricht, Michael, Bedarfsgerechte Stellenzuweisung – das neue Instrument Sozialindex, in: SchulVerwaltung NRW, 2006, S. 188-189.
Häßler, Kathleen, Hermann, Sabine, Adloff, Inis, Grahlen, Rainer und Lenz, Simone, Mundgesundheit der Berliner Kinder - Ergebnisse des Schuljahres 2009/2010, Spezialbericht Berlin 2011-2.Krebserkrankungen im Land Bremen 2000 – 2005. Schwerpunktthema: Soziale Ungleichheit in der Krebsinzidenz und –mortalität. 7. Jahresbericht des BKR, Bremen 2009.
Meinlschmidt, Gerhard, Sozialindikative Planung. Sozialraumanalyse und sozialräumliche Ressourcensteuerung, Berlin 2008.
Shevky, Eshref und Williams, Marilyn, The Social Areas of Los Angeles, Los Angeles 1949.
Ders. und Bell, Wendell, Social Area Analysis, Stanford, CA., 1955.
Dies., Sozialraumanalyse, in: Atteslander, Peter und Hamm, Bernd (Hg.), Materialien zur Siedlungssoziologie, Köln 1974, S. 125-139.
Schmidtke, Kerstin, Konzepte und Methoden zur Abbildung von Lebenslagen - Bildung von Lebenslagen-Indices am Beispiel der Berliner Sozialhilfestatistik, Berlin 2005.
Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz (Hg.), Neueste Lebenserwartungsberechnungen für die Berliner Bezirke. Deutliche Zusammenhänge zwischen Lebenserwartung, vermeidbaren Sterbefällen und sozialer Lage, in: Statistische Kurzinformation, Berlin 2002.

Statistisches Landesamt Bremen (Hg), Trends und Entwicklungslinien der Wahlen vom 13. Mai 2007 - Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse, in: Statistische Mitteilungen, Heft 110, 2007, S. 9- 20.
Tempel, Günter, Die Auswirkungen sozialer Polarisierung. Zur Entwicklung der Lebenserwartung und Sterblichkeit in ausgewählten Bremer Wohngebieten, Bremen 2006.

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