Sonntag, 9. Juni 2013

Roma_Kultur



Integration auch ohne Pass?

Kulturelle und soziale Teilhabe der segregierten Minderheit der Roma



Die Kultur der Sintis und Roma, die innerhalb der Europäischen Union die größte ethnische Minderheit darstellen, ist relativ unbekannt. Dafür scheinen neben sozialen Vorurteilen auch Abschottungstendenzen verantwortlich zu sein.

Wenn eine Inklusion dieser Minderheit in die Gesamtgesellschaft und den Arbeitsmarkt gelingen soll, müssen sich die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und der Sinti- und Roma-Familien vor Ort besser kennenlernen, ohne dass dabei die Minderheit ihre eigene Identität aufgeben und sich der deutschen Kultur vollständig anpassen muss.
Um die zahlreichen Konflikte in den betroffenen Wohngebieten zu lösen, die vor allem durch die Zuwanderung von Flüchtlingen durch die Kriege im Kosovo und in Mazedonien sowie die von „Armutsflüchtlingen“ aus Bulgarien und Rumänien entstanden sind, gibt es eine Reihe von Musterprojekten, aus deren Erfahrungen auch andere Städte lernen können. 

Dabei darf der gesetzliche Rahmen nicht übersehen werden, da viele Roma seit Jahren nur als „Geduldete“ in Deutschland leben, wodurch ihr Leben ohne eine klare Zeitperspektive auskommen muss und sie nur über einen eingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt verfügen.

Anregungen lassen ich in den Modellen finden, die eine ausgewogene Ansiedlungsbalance zwischen einer Segregation, die den Roma Sicherheit und Unterstützung in einer fremden Umwelt gibt, und einer Durchmischung gibt, die eine großflächige Ghettobildung verhindert.

Daneben gibt es eine Reihe von Projekten, die exemplarisch zeigen, wie sich zugezogene Roma in ihrer neuen Wohnumwelt leichter zurechtfinden, sich die Bildungs- und Arbeitsmarktchancen der Sinti und Roma verbessern lassen und sich nicht zuletzt die Mehrheits- und Minderheitskultur besser kennen- und verstehen lernen können.

Ein wichtiges Ziel dieser Integrations- und Inklusionsmaßnahmen besteht neben dem Abbau von Vorurteilen in der stärkeren Identifikation der zugezogenen Sinti und vor allem Roma mit ihrem Wohnquartier, wovon ein Abbau der Konflikte zu erwarten ist, da auf diese Weise ein größeres Interesse der Bewohner an der ihnen zunächst fremden Umwelt und eine Reduzierung von Kriminalität zu erwarten ist.


                                      Fahne der Roma (Quelle: wikipedia)

Viele deutsche Sinti vergleichen ihr Schicksal gern mit dem der Juden. Und das trifft auch durchaus zu; denn in beiden Fällen handelt es sich um Völker, die nach Europa eingewandert sind, ohne dass sie dort einen eigenen Staat bilden konnten. Vielmehr waren sie häufig verfolgte Minoritäten, die von der Nazi-Diktatur sogar im Holocaust bzw. Porajmos, dem „Verschlingen“, wie die Sinti diesen Völkermord nennen, ausgerottet werden sollten. Die Anzahl der Ermordeten kann nur geschätzt werden, wobei die Werte stark differieren. So sollen über 25.000 deutsche und österreichische Sinti sowie in den besetzten Gebieten und den verbündeten Staaten Kroatien und Rumänien weitere 220.000 bis 500.000 Roma ermordet worden sein. Daneben gibt es jedoch auch Schätzungen, die von bis zu 1,5 Mio. toten Roma sprechen.

Allerdings gibt es auch deutliche Unterschiede zwischen den beiden diskriminierten und verfolgten Minderheiten, von denen der wichtigste die Religion sein dürfte. Die Juden wurden zwar von den Christen in den Pogromen meist als Christus-Mörder verfolgt, jedoch ließ sich nicht leugnen, dass Jesus als gläubiger Jude aufgewachsen ist, womit immer eine gewisse Vertrautheit der christlichen und der jüdischen Kultur gegeben war.

Die Kultur der Roma

Das gilt nicht für die Roma, deren Herkunft lange Zeit unbekannt war und deren Sprache, das Romani, erst 1782 durch den Sprachwissenschaftler Rüdiger als zentralindische Sprache eingeordnet werden konnte. Vorher hatte man ihre Heimat eher in Ägypten vermutet, worauf Bezeichnungen wie Ägypter auf dem Balkan und Gypsy auf den Britischen Inseln hinweisen.

Die traditionelle Sozialstruktur


Das soziale Leben der Roma wird weitaus stärker als das ihrer Umgebung durch eine traditionelle Kultur mit den entsprechenden Werten geprägt. Nicht zuletzt um diese Eigenständigkeit zu bewahren, stoßen Anpassungstendenzen auf eine deutliche Ablehnung. Dazu trägt eine Reihe von Tabus bei. So wird kaum etwas über das Romani mitgeteilt und Heiraten mit den Angehörigen anderer Ethnien werden durch einen extremen sozialen Druck verhindert.

Neben Diskriminierungen durch die Umwelt und diese Selbstabgrenzung sorgen traditionelle verwandtschaftliche Beziehungen für den Zusammenhalt der Minderheit.


Die Grundlage bildet wie auch in anderen traditionellen Gesellschaften die Großfamilie, die sich allerdings nicht auf einen Mehrgenerationen Haushalt beschränkt. Aufgrund der verwandtschaftlichen Herkunft bestehen weitere übergeordnete Familienverbände. So bilden bei den Kalderasch, einem rumänischem Roma-Volksstamm, die als „Zelt“ bezeichneten Großfamilien einen Njamuri, die wiederum eine Vitsa ergeben, deren Größe zwischen zehn bis mehreren hundert Großfamilien variieren kann. Aus einer Reihe von Vitsas besteht die jeweilige Subethnie der Roma, in diesem Fall also die Kalderasch.

Diese rumänischen Roma-Gruppen sind nach 1865 entstanden, als die Roma aus der Sklaverei befreit wurden, und anschließend in zunftähnlichen Berufsgruppen wie denen der Kesselflicker, Messerschleifer, Korbflechter und Musiker lebten, für die jeweils bei Heiraten die Endogamie strikt eingehalten werden musste. Dadurch bildeten sich im Laufe der Zeit ganze Stämme mit derselben beruflichen Tätigkeit heraus.

Jeder Vitsa steht ein Ältester vor, der nach Ansehen und Kompetenz entweder auf Zeit oder lebenslang gewählt wird und in Südosteuropa häufig als „Fürst“ bezeichnet wird. Diese Rolle wird nach außen durch Symbole wie einen Bart, besonders geschmückte Anzüge oder silbernes Zepter dokumentiert. 

Die Entscheidungen für und über die Gruppe trifft er, ähnlich wie wir es von Indianerstämmen kennen, in Abstimmung mit einem Altenrat. Wenn sich diese Strukturen ohne äußere Einflüsse erhalten haben, besteht also eine idealtypische patriarchale Gesellschaft, in der nicht nur die Frauen, sondern jeder Einzelne nicht über sich selbst bestimmen kann, wie wir es in unserer heutigen Gesellschaft für selbstverständlich halten. Immerhin können in einigen Großverbänden auch lebenserfahrene ältere Frauen als „Großmütter“ eine führende Stellung einnehmen.



                            "Palast" eines Roma-"Königs (Quelle: wikipedia)

Von Reinheitsvorschriften und Schutzpatroninnen 


Auch wenn die Sinti bereits über 500 Jahre in Deutschland leben, findet man nur wenige Lehnwörter aus ihrer Sprache, dem Romani oder Romanes, im Deutschen. Nachgewiesen wurde diese Herkunft nur für „Bock haben“ im Sinne von Lust haben, wobei das Romani-Wort bokh eigentlich Hunger bedeutet. Ähnliches gilt für Zaster als Bezeichnung für Geld, Kaschemme für eine heruntergekommene Gastwirtschaft, Schund für wertloses Zeug und möglicherweise auch Kaff für unbedeutendes Dorf.

Es sind also insgesamt nur sehr wenige Begriffe, die sich zudem als eher pejorative Wörter in der Umgangssprache finden lassen, also nicht wie Lehnwörter aus dem Lateinischen, Französischen oder Italienischen den Sprachadel der Schrift- oder einzelner Fachsprachen erklommen haben. 

Neben ohnehin nur geringen kulturellen Kontakten und Einflüssen dürfte diese sprachliche Abgrenzung auf ein ausgeprägte Meidungssystem gegenüber der Mehrheitsbevölkerung zurückzuführen, wodurch es den Sinti verboten ist, die Gadsche, wie die Nicht-Roma heißen, über ihre eigene Sprache zu informieren.

Neben der Sprache sind auch andere Teile der kulturellen Identität der Roma wenig bekannt, auch wenn die Mehrheitsgesellschaft darüber durchaus ihre Urteile fällt. Das gilt vor allem für wahrgenommene Unterschiede, die sich aus der Lebensweise von Roma-Familien ableiten lassen, die diese offen mit ihrem Lagerleben dokumentieren.

Dabei gilt für die Roma weniger die christliche Schuldkultur, sondern eine Verhaltensnormierung durch Tabus. So muss jeder Handlungen vermeiden, die als „unrein“ oder „mahrime“ gelten. Von ihnen muss sich fernhalten, ohne sich dabei jedoch mit Gewissensbissen herumschlagen zu müssen. Wenn man will, lassen sich hier Ähnlichkeiten zum Verhalten gegenüber Unberührbaren im Hinduismus finden


Wie auch im traditionellen Judentum gelten dabei für Menstruation, Geburt und Tod besondere Reinigungsvorschriften. Daher halten auch die Roma alle medizinischen und Pflegeberufe, die mit Krankheit und Tod in Berührung kommen, sowie alle Berufe, die mit Tierfleisch und -blut zu tun haben, für unrein.Während die Sprache und viele Sitten der Roma inzwischen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich sind, ist der engere Bereich der Religion relativ verschlossen geblieben. Obwohl man vermuten kann, dass hier ähnlich wie bei den Juden die Tradition besonders sorgfältig bewahrt worden ist, gibt es dafür keine öffentlich zugänglichen Belege. Die Roma haben zumindest nach außen hin überall die Religion der Mehrheitsbevölkerung übernommen, sie bezeichnen sich also als Moslems oder Christen, je nach ihrem Aufenthaltsort. 

Das ist sicherlich unter dem Gesichtspunkt ihres Überlebens nur zu verständlich, wenn man an die vielen religiösen Verfolgungen im Lauf der Geschichte zurückdenkt.

Geringe, aber noch tolerierbare Abweichungen von der dominanten Religion findet man in dem hohen Stellenwert von Wahrsagerinnen und der besonderen Verehrung der schwarzen Sarah. Beides lässt sich mit dem Hinduismus in Indien in Verbindung bringen, wo innerhalb des Shaktismus weibliche Göttinnen eine gewichtige Position einnehmen und versuchte Zukunftsprognosen und Beratungen durch Tarot-Karten oder die Astrologie im Alltagsleben eine große Rolle spielen.


Ein ganz besonderes religiöses Ereignis für die Roma, das inzwischen zu einer Touristen-Attraktion geworden ist, findet alljährlich am 24. und 25. Mai in Saintes-Maries-de-la-Mer, einer Kleinstadt in der Camargue, statt. Zu dieser sogenannten Zigeunerwallfahrt treffen sich Roma aus der ganzen Welt, um an einer Prozession zu Ehren der Schwarzen Sara teilzunehmen.

Dabei wird die bunt gekleidete Statue der Schutzpatronin ans Ufer des Mittelmeeres getragen und anschließend mit dem Meerwasser rituell gewaschen. Dieser Ritus erinnert also an ähnliche Reinigungszeremonien in Indien.

Sara selbst unterscheidet sich bereits durch ihre Hautfarbe von den meist weißen Heiligen und wird besonders als Patronin der Kartenlegerinnen und Handleserinnen verehrt. Einige sehen in ihr auch eine weise Frau und Erfinderin des Tarot.

Nach dem Heiligenlexikon der Katholischen Kirche ist Sara die Schwarze Patronin der Sinti und Roma, da sie als Bettlerin Almosen für eine christliche Gemeinde gesammelt haben soll.


                                   Statue der Schwarzen Sara (Quelle: wikipedia)

Heute sind zahlreiche Sinti und Roma Mitglieder fundamentalistischer evangelischen Kirchen, die eine traditionelle Auslegung des Neues Testaments betreiben, nach der auf jungfräuliche Heiraten, eine traditionelle Rolle der Frau in der Öffentlichkeit und eine Kleidung geachtet wird, durch die sich die Geschlechter bereits durch das Tragen Rock bzw. Hose deutlich unterscheiden.


Vom Flamenco bis zum Zigeunerbaron 


Während die Sprache, Bräuche und die Religion der Roma bis in die jüngste Zeit eher geheim gehalten wurde, gilt das nicht für die Musik der Roma, die im Leben dieses Volkes einen hohen Stellenwert besitzt. Musik und Tanz sind nicht nur öffentlich, wie jeder Tourist weiß, der in Andalusien eine Flamenco-Show erlebte, in Budapest beim Abendessen von einer Roma-Kapelle unterhalten wurde oder auf dem Balkan ein Volksfest besucht hat; die dienen auch dem Broterwerb.


An dieser Musik, ihren Texten und dem anscheinend so freien Leben der Interpreten orientieren sich viele Klischees, die vor allem in der Musik verwendet wurden. Dabei werden die freien Zigeuner, die sich den Zwängen einer durch die Schul- und Arbeitswelt geregelten Kultur nicht unterwarfen und dafür auf die Vorzüge des bürgerlichen Lebens verzichten müssen, als Gegenentwurf zum Karrierestreben der Mehrheitsgesellschaft gesehen.

Diese fremdartige und unabhängige Lebensweise wurde zumeist als Bohemianismus bezeichnet, wobei dieser Begriff zunächst in Frankreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf einen besonderen Lebensstil der Künstler und Ende des Jahrhunderts vor allem auf den der Maler im Pariser Viertel Montmartre angewandt wurde. Der Verweis auf Böhmen ist dabei irreführend, da hiermit ursprünglich die Roma im heutigen Tschechien gemeint waren.

Der Begriff ist allerdings sogar in der neueren Popmusik gebräuchlich , wenn man die Boheminan Rhapsody von Queen denkt.

Im deutschen Sprachraum hat das lustige Zigeunerleben, wie es in einem Volkslied aus dem 19. Jahrhundert bezeichnet wird, da die Sintis dem Kaiser keinen Zins geben müssen, eine etwas deftigere Akzentuierung Erfahrung. Das zeigt sich nicht zuletzt im Zigeunerbaron, dem größten Operettenerfolg, der Johann Strauß erlebt hat, der vor allem durch das Loblied auf das Borstentier und die Trauung durch einen Dompfaff populär geworden ist.

Hintergrund der Handlung ist auch hier der Konflikt zwischen der etablierten Gesellschaft und der Subkultur der Zigeuner, auf dessen soziale Verursachung durch das besondere Schicksal einer Fürstentochter hinweist, die von einer Roma-Frau aufgezogen und sozialisiert wurde und daher zunächst für eine Zigeunerein gehalten wird.


Die Roma in der Europa


Da die Roma in ganz Europa von der Bevölkerungsmehrheit marginalisiert werden, wollen sich zahlreiche Angehörige dieser Ethnie in Volkszählungen nicht outen. Daher sind alle Angaben zur Größe dieser Minderheit mit Fragezeichen zu versehen, da die Zensus-Daten generell zu niedrig sein dürften, sodass bei einer vermutlich hohen Dunkelziffer nur Schätzdaten zur Verfügung stehen, die häufig stark variieren, da sie häufig nicht ohne politische Absichten vorgenommen werden. Unter diesem Vorbehalt sollen in Europa zehn bis zwölf Millionen Roma, womit sie die größte ethnische Minderheit in der Europäischen Union darstellen.

Auch wenn die Zahlen für Südosteuropa wegen de dortigen Diskriminierung besonders problematisch sind, stellen die Roma in Rumänien, Ungarn, Bulgarien und in der Slowakei relativ große Minderheiten, da sie dort mindestens einen Anteil von 2 % der Bevölkerung ausmachen. So sehen die Zahlen zumindest nach den letzten Volkszählungen aus. Einige Schätzungen gehen sogar von bis zu 10 % der Einwohner in Bulgarien, Mazedonien und der Slowakei sowie 7 % in Rumänien und Ungarn aus.

Das erklärt, warum in Bulgarien (Ataka), der Slowakei (Slowakische Nationalpartei) und Ungarn (Jobbik) nationalistische Parteien im Parlament vertreten sind, die dezidiert die Roma als politische Sündenböcke verwenden.

Auf der anderen Seite bestehen auch Roma-Parteien, die in einigen Ländern wie Mazedonien, Serbien und Rumänien zumindest einen der für Minoritäten reservierten Parlamentssitze einnehmen.

Die Gypsies und Travellers in der angelsächsischen Welt

Auch wenn die Roma in Westeuropa nicht zu den Wunschschwiegertöchter und –söhnen gehören, die sich die Eltern der Mehrheitsbevölkerung für ihre Kinder wünschen, werden die Gypsies und Travellers, wie man die Roma auf den britischen Inseln traditionell nennt, deutlich weniger stigmatisiert als die Angehörigen ihrer Ethnie in Südosteuropa; denn hier gab es keinen Porajmos und wollen keine Parteien mit einer Anti-Roma-Politik Wähler gewinnen. 

In einer toleranten Gesellschaft, die nicht unter extrem hoher Arbeitslosigkeit und Kriminalität leidet, können die geschätzten 300.000 Roma in einer eher folkloristischen Nische leben. Das zeigt nicht zuletzt die Verwendung des Begriffs Gypsy, den auch heute noch Roma-Organisationen verwenden. 

Die Gypsies sind Teil der Kultur, die bereits im 16. Jahrhundert erstmals in England erwähnt und von Shakespeare auf die Bühne gebracht wurden. Diese Verwendung als Gegenentwurf zur Mehrheitsgesellschaft hat sich bis in die heutige Zeit erhalten, auch wenn die Thematik enger gefasst wurde; denn die Sitten britischer Roma waren kürzlich der Hintergrund einer sehr beliebten Seifenoper. Dabei stand unter dem Titel „Big Fat Gypsy Weddings“ die Hochzeit in Vordergrund und ganz speziell die Kleidung der Braut.


Die Manouche in Frankreich und die Zingari in Italien

Frankreich und Italien standen mit ihrer Ausweisungspolitik gegenüber zugewanderten Roma aus Bulgarien und Rumänien in den letzten Jahren im Zentrum der Kritik durch europäische Menschenrechtsorganisationen, da etwa 2009 10.000 Roma rigoros aus Frankreich in ihre Herkunftsländer auf dem Balkan abgeschoben wurden. Dabei handelte es sich um die Bewohner illegaler Siedlungen am Rande einige Städte.
Deren Zahl liegt recht hoch. So geht man in Italien von 152.000 Roma in 700 Lagern aus und in Frankreich gehen die Schätzungen für die Manouche und die erst kürzlich zugewanderten Roma auf bis zu 1,3 Mio. Personen. 

Ohnehin spielen die etwa 400.000 Manouches in Frankreich und die knapp 200.000 Zingari in Italien, sieht man einmal von der Zigeunerwallwahrt in Saint-Marie de la Mere ab, kaum eine Rolle im öffentlichen Leben. Der Staat behandelt sie nach den Regeln der EU, was sich etwa in der juristischen Bezeichnung „MENS“ zeigt, was für „Minorités Ethniques Non-Sédentarisées".

Die Gitanos in Spanien


Eine besondere Bedeutung vor allem für die spanische Musik und den Flamenco haben die Gitanos, die etwa 600.000 bis 800.000 in Spanien lebenden Roma, von denen man annimmt, dass sie zumindest teilweise seit dem 16. Jahrhundert über Nordafrika nach Europa gekommen sind.

Erst Ende des 18. Jahrhunderts wird dann erstmals über das ein kulturelles Ereignis berichtet, das man heute generell mit Andalusien und dem Lebensstil der Gitanos verbindet. Es ist der Flamenco, eine Verbindung von Gesang, Gitarrenmusik und Tanz.

Ein besonders authentisches Wohnquartier für den Flamenco für ist der Stadtteil Sacromonte in Grenada, wo auch heute Gitano-Familien nicht nur als Touristenattraktion in Höhenwohnungen gegenüber der Alhambra leben.


Die südosteuropäischen Roma 

Auf ihrer Wanderung von Indien über Persien und Anatolien blieben viele Roma in Südosteuropa, wo sie zumeist unter osmanischer Herrschaft nur eine von zahlreichen anderen beherrschten Ethnien waren. So reicht auch heute noch ein Bereich mit hohen Anteilen der Roma-Bevölkerung von Bulgarien und Rumänien bis nach Ungarn und in Slowakei. So dürften den fünf EU-Ländern Bulgarien, Rumänien, Slowakei, Tschechien und Ungarn fast 4 Mio. Roma leben.

Roma-Bevölkerung in süpdosteuropäischen EU-Mitgliedsländern


Land
Roma (durchschn. Schätzung)
Einwohner insgesamt
Bulgarien
500.000
7,4 Mio.
Rumänien
1.500.000
19,0 Mio.
Slowakei
500.000
5,4 Mio.
Tschechien
300.000
10,5 Mio.
Ungarn
1.000.000
10,0 Mio.

Von der wirtschaftlichen und sozialen Situation ähnlich schlecht ist die Lage der Roma in den Staaten des Westbalkans, die bisher noch keine EU-Mitglieder sind. 

Besonders gravierend ist dabei die Lage im Kosovo, da die EU hier eine besondere Verantwortung hat, denn ohne den Einsatz von Nato und EU würde dieser heute von der albanischen Mehrheit geprägte Staat nicht existieren. Außerdem leben hier seit dem Kosovo-Krieg 1998-9 nach den letzten Zahlen weiterhin knapp 100.000 Roma in Lagern.

Rein von der Anzahl her verdienen auch die Roma in Serbien Beachtung, da bei einem EU-Beitritt ähnliche Folgen wie in Bulgarien und Rumänien eintreten können. Allerdings liegen die meisten Schätzungen unter den 600.000 Roma, die die Roma-Interessengruppe RIO nennt.


Roma-Bevölkerung in den Nicht-EU-Ländern des Westbalkans 

Land
Roma (durchschn. Schätzung)
Einwohner insgesamt
Albanien
100.000
3,1 Mio.
Bosnien
40.000
3,8 Mio.
Kosovo
37.500
1,9 Mio.
Kosovo-Flüchtlinge
95.000
-
Kroatien
35.000
4,4 Mio.
Mazedonien
165.00
2,0 Mio.
Montenegro
20.000
0,6 Mio.
Serbien
600.000
7,5 Mio.
Quelle: Westbalkan, S. 18

Mazedonien mit der größten Roma-Siedlung der Welt


Unter den Balkanländern nimmt Mazedonien eine Sonderstellung ein, da hier relativ große Roma-Wohngebiete bestehen und ein Roma als Mitglied eines breiten Parteienbündnisses in ein Ministeramt gewählt wurde. Hintergrund für diesen außergewöhnlich hohen Grad von politischer Beteiligung sind die politischen Mehrheitsverhältnisse, bei denen die regierende Partei ihre Parlamentsmehrheit einer Koalition mit der albanischen, der türkischen und der Roma-Minderheit verdankt.

Allerdings muss man diese politische Integration vor dem Hintergrund sehen, dass Mazedonien eines der ärmsten Länder Europas ist. So fehlen angesichts der Probleme die finanziellen Mittel für ihre Lösung.

In der Gemeinde Šuto Orizari, die zusammen mit neun anderen Kommunen die Hauptstadt Skopje bildet, stellen die Roma fast 80 % der Bevölkerung. Ursache hierfür ist ein besonderes geschichtliches Ereignis, denn in osmanischer Zeit wurden die einwandernden Roma hier in einer Schießpulverfabrik beschäftigt. In dieser rasch wachsenden „Stadt der Roma“, wie Shutka in einem Film genannt wurde, leben heute ca. 40.000 Einwohner, während es nach der letzen Volkszählung von 2002 erst 22.000 waren.

Auch wenn der Zuwachs neben für Europa ungewöhnlich hohen Fertilitätskennzahlen nicht zuletzt auf einen Zuzug aus kleineren Orten zurückzuführen ist, bietet Shutka keine attraktiven Lebensverhältnisse, denn nach den letzten greifbaren Zahlen von 1999 bezog über die Hälfte der Einwohner Sozialhilfe und die Stadt hatte mit hoher Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Drogenmissbrauch zu kämpfen.

Jedoch gibt es hier auch fast amerikanische Tellerwäscherkarrieren. Eine ist der Roma-Sängerin Esma Redžepova gelungen, die gemeinsam mit dem Sänger Vlatko Lozanoski Mazedonien beim Eurovision Song Contest 2013 vertreten wird. Diese „Königin der Zigeuner“, wie sie von ihren Verehrern genannt wird, die darin keineswegs eine antiziganische Bezeichnung sehen, hat Fans in allen Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien. Eines ihrer bekanntesten Lieder Čaje Šukarije (Schönes Mädchen) gilt sogar als Hymne für alle Roma. Ihre Verehrung gilt jedoch nicht nur ihrer Musik, sondern auch ihrem sozialen Engagement. So wird sie als Zweite Mutter Teresa gewürdigt, zumal auch die erste aus Skopje stammte.


Roma, Ashkali und Ägyptern („RAE“) im Kosovo


Für die Roma-Zuwanderung nach Westeuropa und Deutschland ist die Situation im Kosovo von besonderer Bedeutung, wo es im Unabhängigkeitskrieg 1998/9 zu einer regelrechten Vertreibung durch die albanische Bürgerkriegsarmee UÇK gekommen ist, was zu entsprechenden Flüchtlinsströmen geführt hat. Die Roma sprechen dabei von „ethnischen Säuberungen“ durch UÇK-Milizen und die albanische Mehrheitsbevölkerung. So sind durch die unmittelbaren Kriegshandlungen 50.000 Roma aus dem Kosovo zunächst nach Serbien und Montenegro geflohen. Um ihre Betreuung haben sich verschiedene UN-Organisationen gekümmert, sodass es eine Reihe von Untersuchungen über diese Gruppe gibt.

Dabei ist in diesem Fall die Abgrenzung der Roma von der übrigen Bevölkerung sehr schwierig, da es im Kosovo drei Gruppen gibt, die mehr oder weniger umstritten zu den Roma zählen und in den UN-Dokumenten als Roma, Ashkali und Ägypter mit dem Akronym RAE bezeichnet werden.

Diese Sicht, die die Ashkali und Ägypter als Teilgruppe der Roma betrachtet, teilen sowohl die albanische Mehrheitsbevölkerung des Kosovo als auch die internationalen Organisationen, während die Betroffenen ihre Eigenständigkeit herausstreichen.

Die Aschkali sehen ihre Herkunft in Persien, von wo aus sie im Zuge der Kriegszüge Alexanders nach Europa gekommen sind, sodass sie bereits vor den Albanern im Kosovo gelebt haben. Auch die Balkan- oder Kosovo-Ägypter wollen als Nachfahren ägyptischen Soldaten bereits zur Zeit der Alexander-Diadochenreiche ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. auf den Balkan gekommen sein, während die Albaner erstmals in Quellen aus dem 10. Jahrhundert nach Chr. auftauchen.



Sinti und Roma in Deutschland


Trotz der Verfolgung in der NS-Zeit leben in Deutschland zwischen 40.000 und 70.000, nach manchen Schätzungen auch bis zu 120.000 Roma, die Nachfahren der historischen Zuwanderer der letzten Jahrhunderte sind und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Diese Roma, die Deutsch zumindest als Zweitsprache verwenden, nennen sich Sinti. Erstmals wurden sie im Jahr 1407 im Urkundenbuch er Stadt Hildesheim erwähnt.


Ihre wichtigste Vertretung, der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, unterscheidet zwischen den Sinti und den Roma, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Südosteuropa nach Mitteleuropa zugewandert sind, und mit dem Adjektiv „deutsch“ gekennzeichnet werden, und den in den vergangenen Jahrzehnten als Arbeitsmigranten oder Bürgerkriegsflüchtlinge zugewanderten Roma, für deren Interessen er sich nicht primär einsetzt.




Die jüngere Roma-Zuwanderung nach Deutschland

Diese Situation hat sich durch die Zuwanderung von inzwischen etwa 50.000 bis 100.000 Roma geändert, die aus Südosteuropa nach Deutschland gekommen sind. 

Am Anfang dieses Prozesses steht die Grenzöffnung von Titos Jugoslawien, mit dem die Bundesrepublik Deutschland 1968 ein Anwerbeabkommen abgeschlossen hat.

Aber erst nach dem Fall des eisernen Vorhangs kam es zu einer verstärkten Zuwanderung von Roma nach Deutschland, die allerdings als Angehörige ihrer jeweiligen Staaten erfasst werden. Auslöser waren vor allem die Bürgerkriege in Ex-Jugoslawien seit den 1990er Jahren. So kamen schätzungsweise allein 50.000 Roma aus dem Kosovo nach Deutschland.

Nachdem dort ein anerkannter Staat entstanden ist, wurde im April 2010 ein Rückübernahmeabkommen geschlossen, nachdem die rund 12.000 kosovarischen Roma in den kommenden Jahren zurückgeführt werden sollen.


Das Problem der Geduldeten 



Allein die Zeitspannen und die Zahlen machen dabei auf die gravierende Probleme aufmerksam. So leben die Kosovo-Roma inzwischen bereits über ein Jahrzehnt in Deutschland und haben hier Kinder bekommen, die das Kosovo nicht kennen, sondern in deutschen Kindergärten, Schulen und Nachbarschaften aufwachsen. Bei den vorgesehenen 2.500 Rückkehrern pro Jahr würde rasch ein weiteres halbes Jahrzehnt eines Aufenthalts in Deutschland mit allen seinen Folgen ins Land gehen.

Da das Kosovo und andere Aufnahmeländer durch die Bürgerkriege nicht reicher und ihre Mehrheitsbevölkerung nach den ethnischen Säuberungen während der Kriege nicht toleranter geworden ist, gibt es kaum rückkehrwillige Roma, sondern eher die erneute Zuwanderung von bereits Abgeschobenen. Die Durchsetzung des Abkommens gerät daher in der Regel zu inhumanen Aktionen.


Diese Roma, die inzwischen ihre veränderten Herkunftsländer kaum noch kennen, und ihre Kinder, die meist Deutschland als ihre einzige Heimat betrachten, werden rechtlich gesehen in Deutschland meist nur geduldet.

Eine derartige Duldung, die im Juristendeutsch nur eine "vorübergehende Aussetzung der Abschiebung" bedeutet, ist jeweils längstens auf sechs Monate befristet und kann dann um den denselben Zeitraum verlängert werden. Damit haben die Geduldeten nur sehr eingeschränkte Rechte. Das gilt für die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und die räumliche Mobilität außerhalb ihres Wohnkreises oder -bundeslandes und auch die Teilnahme an Integrationskursen. Diesen Roma fehlt eben der Pass als „der edelste Teil vom Menschen“, wie die Kritiker zynisch anmerken.

Geduldete leben somit immer auf Abruf, sodass vom Gesetzgeber her eigentlich gar keine Integration in die deutsche Gesellschaft gewünscht wird. Sie leben hier als Leistungsberechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, sodass ihr Bedarf zum großen Teil durch Sachleistungen abgedeckt wird. Einschränkungen gelten auch bei der medizinischen Versorgung, wo beispielsweise vor Arztbesuchen eine behördliche Genehmigung eingeholt werden muss, damit die Behandlungskosten übernommen werden.


Diese Rechtslage hat in der Praxis dazu geführt, dass annähernd 200.000 Ausländer mit einer Duldung in Deutschland leben, von denen mehr als ein Drittel schon seit mindestens 10 Jahren dieser fortwährenden Verlängerungsprozedur unterworfen werden. Diese sogenannter Kettenduldungen sind sehr verbreitet, da die Geduldeten trotz aller Einschränkungen ein Leben in Deutschland einer Abschiebung in das für sie wenig gastfreundliche und kaum noch bekannte Herkunftsland bevorzugen. 

Durch diese fehlende Bleibeperspektive werden die Erwachsenen kaum zum Erlernen der deutschen Sprache motiviert, so dass einer weiteren Integration eine deutlich Barriere im Wege steht. Das gilt allerdings nicht für die Deutsch sprechenden Kinder, die wiederum die Herkunftsländer ihrer Eltern als Fremde sehen, sodass nicht selten ein kultureller Riss durch die Familien geht.

Dieser Konflikt zwischen der generellen Rechtslage und der damit häufig verbundenen sozialen Unlogik und Unmenschlichkeit der Einzelfälle gilt nicht nur für die bereits lange in Deutschland lebenden Kriegsflüchtlinge, sondern auch für die aktuellen Migranten aus den jungen EU-Ländern Bulgarien und Rumänien. Zur Vermeidung der damit verbundenen Dilemmata will der Städtetag, den Neubürgerinnen und Neubürgern Perspektiven aufzeigen, die ihnen eine von Sozialleistungen unabhängige Teilhabe an der Stadtgesellschaft ermöglichen, um den sozialen Frieden in der Stadtgesellschaft zu erhalten.

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