Bevölkerungsbezogene Krebsregister auf dem Prüfstand
Schlussfolgerungen aus den bisherigen kleinräumigen Analysen der Krebsregister
Nach den ersten Erfahrungen mit Standard- und
kleinräumigen Spezialauswertungen der Daten von bevölkerungsbezogenen
Krebsregistern lässt sich eine erste Bilanz ziehen, die sich auf das
Leistungspotenzial, mögliche Weiterführungen und notwendige Verbesserungen der
Datengrundlage abstellt.
Generell ist eine Diskrepanz zwischen den Erwartungen, die
Politiker und Bürger an die Register richten, und den Möglichkeiten zu
konstatieren, die das gesammelte Datenmaterial überhaupt zulässt. Das zeigt
sich etwa an der exemplarischen Frage veranschaulichen, die der
Gesundheitsexperte der SPD, Prof. Karl Lauterbach, in der Diskussion der
klinischen Krebsregister stellte: "Die
Menschen wollen wissen: Wie hoch ist das Krebsrisiko in einer bestimmten Region
- etwa in der Nähe einer Chemiefabrik?“.
Vor allen in zwei Bereichen besteht eine sehr deutliche
Diskrepanz, die eine ständige Erläuterung bedarf:
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Während die potenziellen Nutzer glauben, durch eine
Auswertung der Inzidenz- und Mortalitätsdaten gesicherte Hinweise über aktuelle
Umweltbelastungen erhalten zu können, ist das wegen der Latenzphasen von
Krebserkrankungen, die fünf und mehr Jahre betragen, prinzipiell gar nicht
möglich.
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Auch werden die deutlichen Auswirkungen individueller
Lebensstile, die zumindest in großstädtischen Sozialräumen unterschiedlich
verteilt sind, übersehen oder zumindest unterschätzt, sodass es bei der
Interpretation der Ergebnisse leicht zu Missverständnissen kommt, weil sich
diese Auswirkungen nicht eindeutig quantifizieren lassen.
Bei der vorhandenen Datensituation dürften trotz dieser
Einschränkungen Auswertungen möglich sein, wenn sich die Auswertung stärker an
den Bedürfnissen orientiert, die generell räumliche Indikatoren in der Stadtforschung
und –planung gestellt werden und weniger an statistische Tests, die sich auf
alle Erkrankungen stützen sollen und sich an Auswertungen medizinsicher
Experimente orientieren.
Wünschenswert sind nicht ausschließlich mehr oder weniger
signifikanten Aussagen über bestehende Abweichungen von Durchschnittswerten,
sondern Indikatoren, die für Kleinräume über den Grad möglicher karzinogener
Umweltbelastungen informieren. Man muss daher Indizes entwickeln, die auch
relativ geringe Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen erfassen können,
da im Informationsalltag nicht atomare Katastrophen wie in Hiroshima,
Tschernobyl oder Fukoschima bzw. Chemieunfälle wie in Seveso oder Bhopal die
Regel sind, sondern Erhöhungen von vielleicht 10 oder 20 Prozent, die trotz
bestehender Richtwerte für technische Großanlagen wie Kraftwerke und
Mülldeponien auftreten.
Dabei kann die zunächst als problematisch erscheinende
Latenzzeit sogar ein Vorteil sein, da sie aktuelle Aussagen per se verhindert,
sodass man bei der Auswertung auf diesen Gesichtspunkt kaum Rücksicht nehmen
muss. Es ist mit anderen Worten eine Aggregation der Daten über eine Reihe von
Jahren möglich, ohne dass die Auswertung dadurch veralten. Wegen der kaum präzisierbaren Latenzphase kann
schließlich ohnehin keine eindeutig aktuelle Aussage getroffen werden.
Dank dieser größeren Fallzahl lassen sich speziellere
Indizes entwickelen, die nicht nur die gesamte Krebsindenzität oder –mortalität
einer Region erfassen:
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Ein ökologischer Inzidenzindex, der nur die
Lokalisationen einbezieht, die nicht zu einem sehr hohen Anteil auf den
individuellen Lebensstil zurückzuführen sind, dient als generelles Maß für eine
karzinogenfreie Umwelt. Operational gesehen umfasst er daher alle
Lokalisationen ohne die tabakinduzierten. Um weitere nicht zufällige
individuelle Effekte auszuschließen sollte zusätzlich, falls entsprechende
sachliche Voraussetzungen vorliegen, eine Verzerrung durch sreeningrelevante
und schiffbauassoziierte Lokalisationen zumindest geprüft werden.
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Expositionsspefische ökologische Indizes können
mithilfe der entsprechenden Lokalisationen berechnet werden. Das gilt für einen
KKW-, einen Mülldeponie-, einen Pestizid- und einen Schwermetallindex.
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Da Neuerkrankungen vor allem bei älteren Menschen
auftreten, für die Krebs eine relativ häufige Krankheit und die zweithäufigste
Todesursache ist, sollten nicht allein Erkrankungs- und Sterbefälle betrachtet
werden. Eine besondere Aufmerksamkeit
sollte vielmehr der Frage gelten, bis zu welchem Alter man in einer Region im
Durchschnitt krebsfrei leben kann. Um diese Qualität eines krebsfreien Lebens
zu ermitteln, kann ein ökologischer Latenzindex berechnet werden, der
die durchschnittlicher Alterabweichung bei einer Neuerkrankung von dem
mittleren Erkrankungsalter der jeweiligen Lokalisation für jeden Fall in jeder
Region ermittelt.
Durch den Fundus an Daten, der
seit Gründung der Krebsregister gesammelt wird, lassen sich, wenn man die
Aktualität weniger beachtet, die Fallzahlen für längere Zeiträume aggregieren,
sodass sich die Auswertungen auch für kleinere Teilräume vornehmen lassen.
Nimmt man die Bremer Werte als Beispiel, wurden bisher bei Aggregaten von drei
Jahrgängen Teilregionen von ca. 30.000 Einwohnern als kleinste Einheit
betrachtet. Diese Größe ließe sich entsprechend bei sechs Jahren auf 15.000
Einwohner reduzieren. Dadurch wäre es erheblich einfacher, um eine mögliche
Emissionsquelle konzentrische Regionen zu bilden, sodass sich prüfen lässt, ob
mit der Entfernung die Inzidenzhäufigkeit sinkt, was nach den Untersuchungen
Kinderkrebsregisters ein relativ verlässlicher Indikator für relevante
Emissionsquellen ist.
Nach der Verabschiedung des
Gesetzes über die Einführung klinische Krebsregister stellt sich die Frage
einer Zusammenarbeit mit den bereits bestehenden epidemologischen. Das gilt vor
allem für die arbeitsintensive Erstellung eines vollständigen Datenpools, der
mit den Einwohnermeldeämtern abgeklärt werden muss.
Bei dieser ohnehin allein aus
Kostengründen gebotenen Abstimmung zwischen den beiden Typen von Registern wäre
es zweckmäßig, auch die individuellen Daten zu erheben, die bisher die
Auswertungen der bevölkerungsbezognen Daten erheblich beeinträchtigt haben.
Das gilt in erster Linie für
Fragen des individuellen Gesundheitsverhalten wie des Raucherstatus und für die
Dauer einer kleinräumigen Exposition, die sich durch den Wohnort und den
Arbeitsplatz erfassen lässt. Hier ist die bisherige räumliche Zuordnung zu der
Adresse, die zum Zeitpunkt der Erkrankung oder sogar des Todes angegeben wird,
völlig unzulänglich. Diese Erfassung missachtet jegliches Wissen über
Latenzzeiten und vernachlässigt völlig die Dauer einer möglichen räumlichen
Exposition.
Eine Alternative wäre hier die
Erfassung etwa aller Wohnorte und Arbeitsplätze, an denen sich der Kranke
während der letzten 10 bis 15 Jahre längere Zeit, also beispielsweise 5 Jahre und mehr, aufgehalten
haben. Dadurch wäre es prinzipiell möglich, dass ein Erkrankter in der
Auswertung mehreren Kleinräumen zugeordnet wird, was jedoch den realen
Expositionssituationen entspricht.
Da diese Informationen nicht
nur die Qualität der Daten der bevölkerungsbezogenen Register deutlich
verbessern können, aber auch für klinische Register relevant sind, könnte eine
Zusammenarbeit oder Integration der beiden Registertypen gleichzeitig zu
Qualitätsverbesserungen und Kosteneinsparungen führen.
Dabei dürfte die notwendige
Anonymisierung der Daten kein unüberbrückbares Hindernis sein, wenn man die
bisherigen Regelungen auch künftig konsequent anwendet.
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